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Inklusion

Vom Mond zum Eisbären und barrierefreien Bahnalltag

Eine blinde Frau ertastet im Bahnhof München-Pasing das Handlaufschild am Geländer einer Treppe. Zum Vergleich ist ein kontrastreiches Schild einfach auf das bisherige Schild aufgelegt worden. Sowohl am Beginn als auch am Ende des Treppenhandlaufs sind an jedem Geländer die Informationen angebracht.
Verbessertes, kontrastreiches Handlaufschild zur Unterstützung sehbeeinträchtigter Personen z. B. an Bahnhofstreppen (darunter die bisherige Ausführung) (Foto: Claus-Peter Gabriel)

Ein kleiner Schritt für einen Menschen: Angelehnt an die deutsche Übersetzung eines der berühmtesten Zitate der Menschheitsgeschichte (engl.: „That’s one small step for [a] man, one giant leap for mankind“) werbe ich 55 Jahre nach der Mondlandung mit einfach zu realisierenden Schritten, mit denen jede und jeder von uns den Bahn-Alltag barrierefreier gestalten kann.

Es ist früh um 3 Uhr morgens. Ich stecke fest. Mir läuft der Schweiß von der Stirn. Wer kann mir jetzt bloß helfen? Eine Szene wie aus einem Hollywood-Film. Aber sie findet im Treppenhaus statt. Mitten in der Eifel. Auf dem Treppenpodest zwischen dem Erdgeschoß und der ersten Etage.

Die Autobahnfahrt vorher war problemlos. Aber jetzt geht es weder vor noch zurück. Wenn ich hier so steckenbleibe, dann kann niemand das Treppenhaus benutzen. Insbesondere wenn mein blinder Wohnungsnachbar aus dem oberen Stockwerk wie jeden Morgen um 06:00 Uhr in den Tag startet. Mit einem derartigen Hindernis kann man nicht rechnen.

Alleine komme ich nicht weiter. Doch wer kann mir um diese Zeit helfen? Vielleicht „Dein Freund und Helfer“? Eine Idee. Die nächste Polizeistation ist nur einen Kilometer entfernt. Wie werden die Beamten auf diese Situation reagieren? Aber ich habe keine andere Wahl, denn ich benötige dringend Unterstützung. Mein Nachbar darf im Treppenhaus nicht stürzen.

Die Beamten sind völlig überrascht – und hilfsbereit. Mit zwei Mann Verstärkung erreiche ich wieder das Wohngebäude. Zu dritt gelingt es uns schließlich, die ungewöhnliche Last, gerade noch verklemmt auf dem Treppenpodest, bis auf den nächsten Treppenabsatz zu befördern. Direkt zwischen die Wohnungstüren von meinem Nachbarn und mir.

Pünktlich um 06:00 Uhr öffnet mein Nachbar seine Wohnungstür. Freundlich begrüße ich ihn und bitte ihn sich nicht zu erschrecken. „Haben Sie Interesse, eine ungewöhnliche Erfahrung mitzuerleben“, frage ich ihn. Er stellt seinen Langstock an die Wand – und: er will. Mit seinen Händen ertastet er meinen lebensgroßen Studio-Eisbären, der auf allen Vieren vor uns steht. Zwanzig Minuten fühlt er jede Stelle, das Fell, die Ohren. Er erkundet intensiv das riesengroße Tier, das ich gestern in Giengen an der Brenz abgeholt habe. Eine so nahe Begegnung wäre mit dem größten lebenden Landraubtier der Erde nicht möglich.

Bei dieser Gelegenheit fragt er mich: „Herr Gabriel, was ich Sie schon immer mal fragen wollte, was haben Sie eigentlich für merkwürdige Freunde und Bekannte?“ Die Frage überrascht mich. „Wieso, was meinen Sie?“ „Nun, jedes Mal, wenn Sie angerufen werden, legen die Anrufer nach dreimaligem Klingeln auf – da haben Sie doch gar keine Chance das Gespräch anzunehmen!“ Ich lächele und erläutere ihm, dass ich einen Anrufbeantworter benutze, der sich nach dreimaligem Klingel-Signal automatisch einschaltet.

Taktile Tafeln zum leichteren Erfassen einiger Signets: von links Signet „Programm S3“, Signet „Bahnsinn Riedbahn“, Avatar Bahnklusion, DB-Logo, Signet „Programm S3 mit Pulsen“, Signet „Starke Schiene“, darunter ein zusammengefalteter Langstock.
Taktile Tafeln (Foto: Claus-Peter Gabriel)

Erkenntnis: Perspektivwechsel sind nützlich

In diesem Moment hat mein blinder Nachbar mir sprichwörtlich die Augen geöffnet und mir seine Welt nahegebracht. Was mir in meiner Umgebung alltäglich erscheint, das kann für andere unter deren Voraussetzungen völlig anders wirken. So wie die Auswirkungen meiner Sprachbox auf meinen Nachbarn.

Daher sind Perspektivwechsel sehr interessant. Wir können andere Lebensumstände durch eigenes Erleben wesentlich besser nachvollziehen. Es ist sehr eindrucksvoll, z. B. per Alterssimulationsanzüge mal in die Welt von Senioren einzutauchen, per Filterbrillen oder Dunkelerlebnisse ein Gespür von Sehbehinderungen in unserer stark visuellen Zeit zu erfahren – ebenso wie wir uns auf einen Austausch mit betroffenen Kolleginnen und Kollegen einlassen können.

So kann jede und jeder die besonderen Anforderungen und Bedürfnisse für die gemeinsame Arbeit viel besser nachvollziehen. Spannende Erlebnisse und Erkenntnisse von Mitmenschen, die von vielen unserer Barrieren aufgehalten werden. Die allzu häufig dadurch von gemeinsamer Teilhabe ausgeschlossen werden.

Wir alle sind gefragt

Wie einfach ist es für uns, während eines Teams-Meetings einen Screenshot in den Chat zu stellen. Also eine Bildschirmaufnahme zu erstellen und diese während einer Telefonkonferenz per Computer zu verteilen. Aber nur sehende Personen können die Informationen verwerten. Wie gedankenlos ist es, auch in anderen Zusammenhängen Grafiken zu benutzen, ohne uns auch um die Menschen zu kümmern, die visuelle Reize nicht wahrnehmen können.

Ebenso, wenn wir auf Videos verweisen, wie in Pflichtschulungen. Unsere gehörlosen Kolleg*innen werden Inhalte auf der sogenannten Tonspur nicht erfassen können. Denn ihre Muttersprache ist z.B. die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Als Minimal-Lösung zur Teilhabe müssen wir wenigsten alle Videos untertiteln. Idealerweise das Bewegtbild um eine Darstellung der Übersetzung in DGS ergänzen.

Wenn ich heute eine Grafik benutze, erstelle ich ohne großen Aufwand direkt eine alternative Bildbeschreibung. Und bitte andere Personen mit ihrem jeweiligen Bildmaterial ebenfalls darum. Es ist sehr interessant, was wir alle mit etwas mehr Achtsamkeit zusätzlich lernen können.

Farbige Linien führen stark vereinfacht als Gleise in einen Tunnel mit dem Schriftzug „Deutschland braucht eine starke Schiene“.
Signet Starke Schiene (Quelle: DB AG)

Umgang mit Logo, Grafik, Signet & Co

Häufig werden im Bahnkonzern Signets verwendet. Kaum eines davon enthält den alt-Text – und damit schließen wir seheingeschränkte und blinde Mitmenschen aus, selbst wenn es ungewollt passiert.

Eine einfache alternative Bildbeschreibung für das Signet zur Konzernstrategie „Starke Schiene“:

Farbige Linien führen stark vereinfacht als Gleise in einen Tunnel mit dem Schriftzug „Deutschland braucht eine starke Schiene“.

Eine ausführlichere Version, die wir zusätzlich zur Erläuterung bereitstellen können, lautet:

Die Grafik auf weißem Grund zeigt sechs parallele farbige Linien in perspektivischem Verlauf auf einen sogenannten Fluchtpunkt in der Bildmitte zu, vor dem die Linien in unterschiedlicher Länge senkrecht nach oben führen. Dabei sind die roten und grünen Linien doppelt so breit wie die grauen. In der Mitte des Vordergrundes werden zwei grüne Linien links von je einer roten und einer grauen sowie rechts von einer roten und einer grauen Linie flankiert. Diese Darstellung symbolisiert Schienen, die in einen Tunnel münden. Vor der Grafik steht der zweizeilige schwarze Schriftzug „Deutschland braucht eine starke Schiene“.

Wer z. B. in der eigenen E-Mail-Signatur Grafiken oder Signets verwendet, um auf aktuelle Projekte oder Events aufmerksam zu machen, darf auch hier alternative Bildbeschreibungen nicht vergessen. Ein einfacher Schritt zu mehr Barrierefreiheit.

So wie es unterschiedliche Lerntypen gibt, können wir blinden Menschen auch die Vorstellung von Signets erleichtern. Dazu habe ich beispielsweise die auf Seite 53 abgebildeten taktilen Tafeln erstellt.

Gerade bearbeite ich die Closed Captions (ein-/ausblendbaren Untertitel) für die Dokumentation zur „Bahnsinn Riedbahn“-Serie auf YouTube. Daraus folgendes weitere anschauliche Beispiel aus Folge 5 – Spiel mir das Lied vom Ried. Zwei Protagonisten sprechen in zwei Szenen: „Komm, scheiß doch drauf“ und „Das hat die Bahn verkackt.“

Sollten diese Ausdrücke in den Untertiteln vielleicht besser hinter Sternchen verborgen werden? „Komm, ****** doch drauf.“ und „Das hat die Bahn *******.“

Nein, um gehörlose Menschen nicht zu benachteiligen, auf keinen Fall. Denn wenn diese Kraftausdrücke auf der Tonspur z. B. nicht durch einen Piepton zensiert werden, dann dürfen auch die Untertitel diese Informationen dem gehörlosen Publikum nicht vorenthalten.

Übrigens, die Situation im Treppenhaus habe ich vor rund 40 Jahren tatsächlich erlebt. Der Eisbär begleitet mich seitdem immer weiter und steht auch heute noch in meinem Studio. Und zu der damaligen Erfahrung kommen täglich weitere neue Erlebnisse für Inklusion und Teilhabe hinzu.

Links
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Zur „Bahnsinn Riedbahn“-Serie bei YouTube


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