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Öffentlicher Nahverkehr

ÖPNV nach Corona: Mobilitätswende forcieren

Nahaufnahme einer Tram an einer Haltestelle
Foto: Panthermedia/Chalabala

Vor fast genau einem Jahr waren wir am Tiefpunkt. 22 Jahre lang verzeichnete der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bundesweit immer höhere Fahrgastzahlen, die Branche eilte von Rekord zu Rekord. Doch im März 2020 sank die Fahrgastnachfrage coronabedingt gleichsam über Nacht auf 10 bis 20 Prozent des Vorjahresniveaus. Die folgenden Monate waren geprägt von einer beispiellosen Kraftanstrengung bei den Verkehrsunternehmen. Indessen sind jetzt die Aussichten unverkennbar besser: Die Branche will, die Branche muss wieder zurückkommen. Denn Deutschlands Verpflichtungen, die anspruchsvollen Klimaschutzziele zu erreichen, gelten unverändert weiter. Der Bund hat sich auch deswegen zum Ziel gesetzt, dass der ÖPNV bis 2030 im Vergleich zu 2019 doppelt so viele Fahrgäste zum Ziel bringen soll. Hierfür haben wir kostbare Zeit verloren. Wir müssen darum mit aller Kraft die Mobilitätswende neu starten.

Klar ist: Die Pandemie ist längst nicht besiegt. Und doch ist vieles anders als vor einem Jahr. Niemand hätte im Frühjahr 2020 erwartet, dass wir am Ende des Jahres zugelassene, wirksame Impfstoffe haben. Dass wir belastbare Corona-Tests haben, massenweise, auch für den Laiengebrauch. Dass vieles nur noch eine Frage der Zeit ist: Impftermine, Lockerungen, irgendwann auch Urlaubsreisen. Große Veranstalter haben Konzepte vorgelegt, wie eine Rückkehr in Stadien, Konzerthäuser und Theater aussehen kann. Grundschulen und Abschlussklassen haben bereits einen Anfang gemacht. Das stimmt zuversichtlich.

Maßnahmen der Branche greifen

Auch in Bezug auf das Virus haben die Verkehrs­unternehmen viel mehr Klarheit. Etwa die Frage, wie es sich verbreitet und welche Maßnahmen wirksam helfen. Gingen Fachleute zunächst davon aus, dass sich die Erreger über Oberflächen übertragen – die Unternehmen reagierten mit verkürzten Reinigungs­intervallen – ist heute klar, dass die Verbreitung zumeist über Aerosole stattfindet. Das Ansteckungsrisiko in Bus und Bahn ist nicht nur wegen der rundweg akzeptierten Maskenpflicht gering, sondern auch, weil Frischluftaggregate und Tür- und Fensteröffnungen einen regelmäßigen Luftaustausch gewährleisten, die Reisezeiten im Nahverkehr vergleichsweise kurz sind und in den Fahrzeugen eher weniger gesprochen wird. Entgegen vieler anfänglicher Vermutungen ist der ÖPNV kein Gefahrenherd.

Wissenschaftliche Studien sind Garant für Vertrauen

Diejenigen, die in der Zeit der Beschränkungen zwingend zur Arbeit fahren müssen, können dies ohne erhöhtes Risiko tun, wenn sie eine Maske tragen und sich an die Corona-Regeln halten. Eine Vielzahl nationaler und internationaler wissenschaftlicher Untersuchungen bestätigt dies. Wir haben alle Studien auf der Netzpräsenz der branchenweiten Aufklärung- und Wiedereinsteigerkampagne besserweiter.de hinterlegt. Das Werben um die Wiedereinsteiger – ob Pendler*in, Freizeit-Kegelmannschaft oder Handwerker*in – läuft bundesweit an, sobald die Pandemie es zulässt und weitgehende Lockerungen in Kraft sind. Denn ohne die Fahrgastnachfrage und die damit verbundenen Ticketeinnahmen kommen wir in finanzielle Bedrängnis.

Auf und Ab der Fahrgastzahlen

Wir haben gelernt: Je weniger coronabedingte Einschränkungen, desto höher die Fahrgastzahlen auch während der Pandemie – das spricht für das Vertrauen der Menschen in den ÖPNV. So glich die Entwicklung 2020 einer Berg-und-Tal-Fahrt: Zwar hatte sich der ÖPNV – nach dem Einbruch der Fahrgastzahlen im Frühjahr – im Sommer 2020 auf einem hohen Niveau eingependelt, doch Anfang 2021 standen wir mit 30 bis 40 Prozent durchschnittlicher Nachfrage wieder ungefähr da, wo wir zuletzt im März bis April-Mai 2020 waren.

Bei den Fahrgastzahlen müssen wir, sobald die Bürger*innen mehrheitlich geimpft und immunisiert sind, binnen Jahresfrist soweit es geht wieder an die alten Zahlen herankommen, sonst schaffen wir die Mobilitätswende nicht. Wenn wir nach vorn blicken: Die Maßnahmen, auch in Bezug auf die Masken, müssen sich an den Fall- und Impfzahlen orientieren. Wenn die Voraussetzungen vorliegen, brauchen wir Lockerungen, nicht zuletzt mit Blick auf die Wirtschaft, den Einzelhandel, die Innenstädte, die wieder Fuß fassen müssen.

Hinweisschild mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln an einer S-Bahn-Haltestelle
Bei Tickets und Tarifen ist mehr Flexibilität gefragt, um auch für Gelegenheitsfahrten attraktiver zu werden (Foto: DB AG/Volker Emersleben)

Wegweisende Beschlüsse des Klimakabinettes

Wir hatten uns für 2020 viel vorgenommen, wollten für die Mobilitätswende alle Kraft in den Ausbau und die Modernisierung unserer Angebote stecken. Diese Arbeiten laufen weiter. Den Ausbau von Bus und Bahn dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Unser Ziel für 2030, den ÖPNV-Anteil bei der Verkehrsmittelwahl um ein Drittel zu heben, haben wir weiterhin fest im Blick.

Es gibt gute Gründe für Zuversicht: Mit der Novelle des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes steigen die finanziellen Mittel erheblich – von bislang 333 auf 665 Millionen Euro, seit 2021 eine Milliarde Euro, ab 2025 sogar auf zwei Milliarden Euro – dynamisiert mit 1,8 Prozent jährlich. Auch die Regionalisierungsmittel wurden auf 5,2 Milliarden Euro bis 2031 erhöht. Nicht zu vergessen sind dabei die fortgeführten Entflechtungsmittel, die weiter zur Verfügung stehen. Auch das Planungsrecht wurde novelliert und „beschleunigt“. Daneben ist es gelungen, praxistaugliche Verbesserungen für die Förderung von straßenbündigem Bahnkörper und zur Grunderneuerung schienengebundener Verkehrswege zu erreichen. Der Förder­katalog wurde ausgeweitet, Förderschwellen gesenkt. Der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht. Nun muss die Branche deutlich mehr planen und bauen, um diese Mittel auch bei einer pandemiebedingt verschlechterten Haushaltslage für die Branche dauerhaft zu sichern.

Wiedereinsteiger gewinnen, ­Stammkunden halten

Wir brauchen nicht darum herumreden: Die Branche muss enorm aufholen, um an die Erfolge der Zeit vor Corona wieder anzuknüpfen. Die gute Nachricht war bisher: Die Stammkunden blieben uns weitgehend treu, das Vertrauen in Sicherheit und Leistung ist prinzipiell da. Doch mittlerweile verzeichnen wir zunehmend Kündigungen von denjenigen, die ihre Monats- und Jahreskarten nur noch vermindert nutzen können. Die Abwanderung liegt gegenwärtig im Schnitt bei rund 15 Prozent des Vor-Krisen-Niveaus, Tendenz steigend. Branche und Politik müssen daher weiter eng zusammenstehen, um das hohe Leistungsangebot bei Bus und Bahn halten zu können.Im Schnitt bewegten wir uns noch von Juni bis Ende September 2020 bei den Fahrgastzahlen zwischen 70 und 80 Prozent bundesweit. Die fehlenden 20 bis 30 Prozent kamen daher, dass sehr viele Menschen in Kurzarbeit waren oder von zu Hause arbeiten. Mit dem zweiten Shutdown stieg ihr Anteil, es fehlten zudem schlicht die Anlässe für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel: Ohne Tourismus, Konzerte, Fußball und Freizeitangebote fehlen uns die Gelegenheitskund*innen. Unser Fahrplan- und Platzangebot haben wir auf eigenes Risiko und dem politischen Willen folgend trotz Einbrüchen bei den Fahrgastzahlen bisher nahezu vollständig aufrechterhalten.

Entscheidend: Rettungsschirm für 2021

Die politischen Entscheidungsträger sind in der Krise enorm gefordert. Bei aller Kritik: Mit Blick in andere Länder muss man Bund und Bundesländern ein Kompliment machen. Wir arbeiten vertrauensvoll und lösungsorientiert mit den Verantwortlichen zusammen, dafür sind wir dankbar. Für die bisherigen Entscheidungen erhält die Politik unsere uneingeschränkte Rückendeckung, so weh es hier und da auch tun mag. Jedoch: Die derzeitigen Fahrgeldeinnahmen sind für die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen unzureichend. Der erste ÖPNV-Rettungsschirm aus dem letzten Jahr trägt uns aktuell noch. Schon bald braucht es eine weitere entschlossene Unterstützung in Höhe von rund zwei Milliarden Euro seitens des Bundes und der Länder, sonst drohen an vielen Orten harte Einschnitte beim ÖPNV-Angebot. Der Branchenverband ist hier bereits in den Gesprächen mit der Politik.

Grafik Rettungsschirme 2020 und 2021
ÖPNV-Rettungsschirm 2020 und 2021: Ohne weitere Unterstützung von Bund und Ländern drohen Einschnitte beim Angebot (Quelle: VDV)

Homeoffice-Effekt in dem Maße fraglich

Viel ist geschrieben worden zu den verkehrlichen Entwicklungen, die Corona gebracht hat. Dabei sollten wir unterscheiden zwischen pandemiebedingten Entwicklungen, die einen langfristigen Trend bestärkt haben und solchen, die durch die Beschränkungen notwendig wurden und sich entsprechend wieder abschwächen werden. Wie sich die Thematik um das Homeoffice weiterentwickelt, können wir noch nicht mit genügender Genauigkeit prognostizieren. Bäcker*in, Handwerker*in, Krankenpfleger*in und Apotheker*in werden nicht permanent von zu Hause arbeiten können – dieser Effekt sollte daher nicht überschätzt werden.

Sicher ist, mit unseren Abo-Monats- und Jahreskarten haben wir attraktive Angebote. In den meisten Verbünden rechnen sich diese, auch wenn nicht jeden Tag gefahren wird. Zudem ist mit diesen Ticketangeboten auch die Mobilität im Freizeitverkehr sowie bei Besorgungsfahrten möglich, ohne zusätzliche Fahrtberechtigungen erwerben zu müssen. Selbstverständlich müssen wir für alle Gelegenheitskund*innen und für die, die künftig vermehrt von zu Hause arbeiten, flexibler in unseren Angeboten und Tarifen werden. Dann werden wir auf Sicht wieder an die hohen Fahrgastzahlen herankommen.

Umweltverbund hat Potenzial gezeigt

Viele Vor-Corona-Gewohnheiten werden zurückkommen. Vielleicht wird auf etwas höherem Niveau – gut für den Umweltverbund – Fahrrad gefahren, aber sicher nicht bei Schnee, Eis und Regen. Diejenigen, die derzeit mehr Pkw fahren, werden das nicht mehr in dem Maße tun, wenn sie wieder viel Zeit im Stau verlieren. Der Klimawandel wird durch Corona jedenfalls nicht aufgehoben. Im Zweifel sind seine negativen Auswirkungen, auch die wirtschaftlichen und sozialen, größer als jene der Covid-Krise – auch für Deutschland. Planung und Ausbau des ÖPNV müssen daher vorangetrieben werden. Das ist Konsens in Deutschland.

Branche voller Innovationskraft

Zu wenig wird in diesen Tagen von der Innovationskraft der Branche berichtet. Von den Anstrengungen, die bei der Digitalisierung der Schiene und des Wagenmaterials unternommen werden, von den kapitalintensiven Modernisierungen sowohl bei den Personen- als auch bei den Güterbahnen. Diese machen uns wettbewerbsfähiger.

Auf deutschen Straßen rollen derzeit rund 500 batterieelektrische Busse, rund 1.500 Hybride und etwa 50 Brennstoffzellen-Busse, die auf Wasserstoff zurückgreifen. Für weitere 1.400 E-Busse haben die Verkehrsunternehmen bereits Förderanträge gestellt, die teilweise schon bewilligt sind. E-Busse werden schon bald das Stadtbild prägen. Auch bei den Angebotsformen sehen wir technik-gestützte Neuerungen. Der klassische Linienverkehr wird zunehmend mit bedarfsgesteuerten Angeboten, also beispielsweise Anrufsammeltaxis und Rufbussen ergänzt.

Fahrzeuge von CleverShuttle auf einem Parkplatz
Der klassische Linienverkehr wird zunehmend mit bedarfsgesteuerten Angeboten wie Rufbussen und Sammeltaxis ergänzt (Foto: DB AG/Volker Emersleben)

Mehreinstellungen trotz Corona

Für den Ausbau beim Angebot, bei der Infrastruktur und bei den Innovationen brauchen wir weiter gut ausgebildetes Personal. Der Personalbedarf hat 2020 laut VDV-Branchenumfrage bei 57 Prozent der Unternehmen zugenommen oder blieb unverändert hoch (40 Prozent), vor allem beim Fahrpersonal, aber auch im gewerblich-technischen Bereich. Auch das ist eine Zahl aus dem Corona-Jahr: Über 76 Prozent der befragten Unternehmen haben 2020 mehr Einstellungen vorgenommen als noch 2019. Rund ein Drittel hat bis zu zehn Prozent mehr Personal eingestellt, rund 20 Prozent der Befragten haben sogar bis zu 15 Prozent und mehr neue Stellen besetzt als im Jahr davor.

Unterstützung der Politik bleibt entscheidend

Wir müssen uns als Verkehrsunternehmen auf unsere Stärken besinnen. Vor der Krise wuchsen wir von Jahr zu Jahr. In der Krise stellten wir uns quasi über Nacht auf die schwierigen Bedingungen ein, die sich ihrerseits im Jahresverlauf immer wieder änderten, und bringen volle Leistung. Nach der Krise kommen wir wieder zurück: mit Qualität in der Leistung und Innovationen bei den Tickets und im digitalen Bereich. Das wird ein anstrengender Weg, doch ich bin zuversichtlich. Jetzt müssen beim Bund nur noch die Beratungen zur Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes und zum autonomen Fahren zu Ende gebracht werden.

Mit resümierendem Blick auf die laufende Legislatur lässt sich festhalten: Die Entscheidungen im Zuge des Klimakabinetts für den Ausbau von Bus und Bahn sowie die pandemiebedingten Hilfen mit dem ÖPNV-Rettungsschirm 2020 und die zusätzlichen Mittel für die Schiene sind nicht hoch genug einzuschätzen. Die Branche wird die hieraus erwachsenen Verpflichtungen erfüllen und ihren Beitrag zum Mobilitätswandel sowie zum Erreichen der Klimaschutzziele leisten. Entscheidend bleibt, dass die Politik die Mobilitätswende weiter mit Nachdruck unterstützt.


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