Merkliste aktualisiert
Home > Themenwelten > Betrieb > Die Fahrdienstvorschrift: künftig digital aufbereitet und weiterentwickelt

Betriebliches Regelwerk

Die Fahrdienstvorschrift: künftig digital aufbereitet und weiterentwickelt

Foto: DB AG/Uwe Miethe
Foto: DB AG/Uwe Miethe

Jedes Stellwerk der Deutschen Bahn hat mindestens ein Exemplar von ihr im Regal stehen, die meisten Mitarbeitenden im Bahnbetrieb bekommen sie persönlich zugeteilt: die Fahrdienstvorschrift. Weil sie in die Jahre gekommen ist, wird sie fit für die Zukunft gemacht und weiterentwickelt. Dazu gehört zum einen eine digitale Variante, die es Anwender*innen ermöglicht, die umfangreichen Inhalte nach verschiedenen Kriterien zu filtern, Themen mit einer intelligenten Suche schnell zu finden oder auch immer die aktuellen Weisungen direkt aufzufinden. Zum anderen erfolgt schrittweise eine strukturelle und stellenweise inhaltliche Überarbeitung für ein besseres Aufnehmen der Regelungen ganz im Sinne der Menschlich-Organisatorischen-Faktoren (MOF). Wie das gelingen soll, erfahren Sie im folgenden Artikel.

Erstmals erschienen im Jahr 1907, ist die Fahrdienstvorschrift seither eines der bedeutsamsten Regelwerke im deutschen Eisenbahnsektor. Sie enthält alle spezifischen Regeln für die sichere Durchführung des Bahnbetriebs und die Koordination der Mitarbeitenden, konkret das „Züge fahren“ und „Rangieren“ aus Sicht der Infrastruktur und die Vorgaben und Schnittstellenregeln für die Eisenbahnverkehrsunternehmen, die sie in der Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden des Eisenbahninfrastrukturunternehmens beachten müssen.

Wer die Papierform der Fahrdienstvorschrift schon einmal aus dem Regal hieven musste, wird wissen, dass sie sehr umfangreich ist. Mit Vorspann und allen Richtlinien setzt sie sich aus mehreren hundert Seiten zusammen. Das verwundert nicht, denn in Deutschland ist die Technikvielfalt insbesondere durch die vielen Stellwerkstypen und Infrastrukturausrüstungen, die heute von der DB Netz AG betrieben werden, sehr groß.

Von den rund 2.500 Stellwerken in Deutschland entfallen knapp 900 auf mechanische/elektromechanische, 1.200 auf Spurplan und knapp 500 auf die modernste Variante der elektronischen Stellwerke. Hinzu kommen verschiedene Bauformen z.B. für Zugsicherung, Gleisfreimeldeanlagen oder Streckenblockformen. Für all diese Typen und Formen beschreibt die Fahrdienstvorschrift die zu beachtenden Regeln. Dies und der Umstand, dass sie z.B. aufgrund von gefährlichen Ereignissen im Bahnbetrieb immer wieder ergänzt wurde, stellen die wesentlichen Gründe dar, warum sie heute so umfangreich ist.

Die Fahrdienstvorschrift in Papierform, wie sie heute auf jedem Stellwerk der Deutschen Bahn zu finden ist (Quelle: Dieter Zöll)

Handlungs- vs. schutzzielorientierte Regelwerkskultur

Der weitere große Komplexitätstreiber für die Fahrdienstvorschrift ist die „Regelwerkskultur“ im deutschen Eisenbahnbetrieb. Im Sinne einer handlungsorientierten Regelwerkskultur wird versucht, jede mögliche Handlungsoption zu beschreiben und vorzugeben. Das Regelwerk soll so gestaltet sein, dass es alle Handlungen ausschließt, die zu einem Unfall führen können. Das Regelwerk wird immer komplexer, um Vollständigkeit zu erreichen. Weil das Regelwerk immer komplexer wird, entscheiden die Anwender*innen in außergewöhnlichen Betriebssituationen durchaus auch selbst aufgrund ihres Fachwissens, ohne bewusste Ausrichtung am Wortlaut des Regelwerks.

Das ergibt eine paradoxe Situation: Das Regelwerk wird immer komplexer, um Handlungssicherheit zu vermitteln, es wird aber nicht mehr immer nach dessen Wortlaut gehandelt, weil es immer komplexer wird. Dieser handlungsorientierten Regelwerkskultur steht eine schutzzielorientierte Regelwerkskultur gegenüber.

Schutzziele beschreiben einen sicheren Prozess und Randbedingungen. Mitarbeitende müssen Zweck und Funktion der Schutzziele vollständig verstehen und dadurch eigenverantwortlich feststellen können, ob eine Handlung zulässig ist oder nicht. Unfälle sind immer Folge von Missachtung der Schutzziele. Auch ein schutzzielorientiertes Regelwerk wird bestimmte Handlungsanweisungen vorgeben – aber nicht alle Handlungsschritte. Bei der Weiterentwicklung des Regelwerks sind diese Mechanismen bewusst zu beachten, dann ist auch eine Kulturveränderung möglich. Wie immer bei solchen Veränderungen bieten sich einzelne Schritte an, denn die Kultur, also so, wie wir uns verhalten und agieren, lässt sich nicht auf Kommando verändern.

Neben dem Umfang der Fahrdienstvorschrift stellen auch deren teilweise komplizierten, schwer verständlichen Formulierungen die Leser*innen vor Herausforderungen. Die DB Netz AG hat sich nun zur Aufgabe gemacht, diese einzelnen Punkte aufzugreifen. Der Umgang mit der Fahrdienstvorschrift wird vereinfacht und sie wird ins digitale Zeitalter überführt. Ein wichtiger Baustein steht dabei mit der digitalisierten Fahrdienstvorschrift schon kurz vor der Umsetzung.

Die Anwendung THALAMUS

Mit der Anwendung THALAMUS wird die Fahrdienstvorschrift digital, filterbar und damit besser zu handhaben.

Im Jahr 2018 setzte sich ein Team aus Vertreter*innen der DB Netz AG, der TU Braunschweig und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit der Untersuchung menschlicher Fehler im Bahnbetrieb auseinander. Ziel dieser Betrachtungen war es, geeignete Maßnahmen abzuleiten, mit Hilfe derer die Wahrscheinlichkeit des Auftretens menschlicher Fehler verringert und somit die Sicherheit im Bahnbetrieb weiter erhöht werden kann.

Die Anwendung THALAMUS auf einem digitalen Endgerät (Tablet) im Stellwerk Schaftlach
Die Anwendung THALAMUS auf einem digitalen Endgerät (Tablet) im Stellwerk Schaftlach (Foto: Christoph Gerg)

Eine wichtige, aber nicht neue Erkenntnis war, dass insbesondere der Umfang der Fahrdienstvorschrift immer schwerer zu beherrschen ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Inhalte des Regelwerks nicht alle allgemeingültig sind, sondern beispielsweise nach Stellwerksbauform aufgebaut sind und man sich deshalb die für sich geltenden Regeln oft mühsam anhand der Papierversion zusammensuchen muss.

Aufgrund dieser Umstände wurde die Idee einer digitalen, aber auch gleichzeitig filterbaren Fahrdienstvorschrift in Form einer IT-Anwendung geboren, welche nach einem Vorschlag von Walter Jonas (DB Netz AG) den Namen THALAMUS tragen sollte. THALAMUS deswegen, weil es der Teil des menschlichen Gehirns ist, der die Sinneseindrücke filtert und aufbereitet. Mit dieser Idee im Gepäck, machte man sich auf die Suche nach einem Partner, der die technische Umsetzung realisieren konnte. Nach einigen Wochen und Gesprächen mit mehreren Unternehmen erhielt die DB Systel GmbH den Zuschlag. Nach der Entwicklung eines technischen Prototyps traten Verzögerungen auf und im Jahr 2022 nahm das Projekt wieder Fahrt auf.

Auf Basis des Prototyps entwickelte man in wenigen Monaten eine lauffähige Web-Anwendung, die die gewünschten Funktionen abbildete. Zum einen beinhaltet sie die Regeln der Fahrdienstvorschrift (Teil Mitarbeiter EIU 408.01 – 06) und zum anderen die Filterfunktionen. Gefiltert werden kann nach Stellwerksbauform, Streckenblockform, Zugbeeinflussung, Bahnübergangssicherung und Gleisfreimeldeanlage.

Im Frühjahr 2023 konnte man die beiden Netze Betrieb Kassel und München für einen Pilotbetrieb gewinnen. Auf freiwilliger Basis bekamen mehr als 500 Fahrdienstleiter*innen und Weichenwärter*innen die Möglichkeit, die Anwendung für drei Monate auf Herz und Nieren zu testen. Das Feedback war sehr positiv und brachte wichtige Erkenntnisse für die Weiterentwicklung. Aktuell werden weitere Funktionalitäten wie z.B. eine intelligente Suchfunktion, die Verlinkung von Querverweisen oder auch die Integration von kurzfristigen Regelwerksänderungen, bei der DB Netz AG Weisungen genannt, implementiert.

Da auch alle relevanten Stakeholder von THALAMUS überzeugt sind, steht aktuell einem Rollout in allen Netzbereichen und Betriebszentralen der DB Netz AG gegen Ende dieses Jahres nichts im Wege. Mit der sukzessiven Digitalisierung des Regelwerks wird nun also ein wichtiger Schritt in Richtung Digitalisierung gegangen, welcher auch wegweisend für andere Projekte sein kann.

Beispiel für eine in THALAMUS geöffnete Regel aus der Fahrdienstvorschrift
Beispiel für eine in THALAMUS geöffnete Regel aus der Fahrdienstvorschrift (Foto: Christoph Gerg)

Neuer Anstrich für die Fahrdienstvorschrift

Neben der Entwicklung einer digitalen und filterbaren Variante der Fahrdienstvorschrift hat es sich die DB Netz AG ebenfalls zur Aufgabe gemacht, sie strukturell und auch inhaltlich zu überarbeiten. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Regelwerk vermehrt so gestaltet, dass möglichst alle denkbaren Sachverhalte und Handlungen des Eisenbahnbetriebs klar vorgegeben und geregelt sein müssen, also ein eher handlungsorientierter Aufbau. Daran ist prinzipiell nichts verkehrt, es führte jedoch dazu, dass der Umfang immer größer geworden ist und die Verständlichkeit und damit die Handhabbarkeit der Regeln darunter gelitten hat.

Wie bei vielen weiteren Regelwerken sind auch bei der Fahrdienstvorschrift das einfache Lesen und Aufnehmen der Regeln in der jetzigen Variante durch zu lange und verschachtelte Sätze und zu wenig visuelle Informationen erschwert. Nachweislich tut sich das menschliche Gehirn mit visuellen Informationen leichter als mit reinen Textinformationen. Weiterhin gibt es zu viele Querverweise, Fallunterscheidungen oder Ausnahmen und Auslegungsmöglichkeiten.

Dass Handlungsbedarf besteht, zeigen auch die Ergebnisse einer aktuellen internen Zufriedenheitsbefragung, in welcher beispielsweise die Gesamtzufriedenheit und die Verständlichkeit der Fahrdienstvorschrift mit einer Schulnote 4 bewertet wurden. 72 Prozent der Teilnehmenden bewerten die Formulierungen in der Fahrdienstvorschrift mit einer Note zwischen ausreichend und ungenügend.

Hier kommen die unterschiedlichen Erwartungen von Anwender*innen und Fachautor*innen an Regeln zum Ausdruck: Die Anwender*innen möchten zunächst einfach lesbare Regeln, wobei in vielen Diskussionen ergänzt wird, dass sie nicht nur einfache klare Regeln wollen, sondern gerne auch jeden einzelnen Spezialfall klar geregelt sehen möchten. Dies führt auf keinen Fall zu einer Verschlankung des Regelwerks.

Für Fachautor*innen ist es erforderlich, dass sie Regeln zutreffend formulieren und mit ihnen auch die unterschiedlichsten Einzelfälle abdecken. Hier ist es wichtig, rechtssicher zu sein. Bei den unzähligen Spezialfällen und der bei manchen Leser*in vorhandenen Tendenz, Regeln anhand von Einzelfällen kritisch auf Widersprüche hin zu hinterfragen und auf die Goldwaage zu legen, keine leichte Aufgabe.

Das führt mitunter dazu, dass Regeln wie juristische Texte formuliert werden. Das kann eine Lösung sein, jedoch auch die typischen Eigenheiten des „Juristendeutsch“ einhandeln: „unnötig lange Sätze, hohe Substantivdichte, elaborierte Wortwahl in Annäherung an die Kanzleisprache des 19. Jahrhunderts. (…)

Wenn gemeint ist:

Eine nach Wochen bemessene Frist endet mit Ablauf des Tags, der mit Namen dem Anfangstag entspricht. Anstelle des Namens tritt bei nach Monaten, Jahren oder Bruchteilen von Jahren bemessenen Fristen die Zahl (§ 187 I). Mit Ablauf des Vortags endet die Frist, wenn sie zum Tagesbeginn zu laufen beginnt (§ 187 II).

sagt der Jurist:

Eine Frist, die nach Wochen, nach Monaten oder nach einem mehrere Monate umfassenden Zeitraum – Jahr, halbes Jahr, Vierteljahr – bestimmt ist, endigt im Falle des § 187 Abs. 1 mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, welcher durch seine Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt, im Falle des § 187 Abs. 2 mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, welcher dem Tage vorhergeht, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht.

(§ 188 II BGB)

Aus drei konzentrationsbedürftigen, aber passabel kurzen Sätzen wird ein einziger. Knapp 90 Wörter, jedes dritte ist ein Substantiv, sechs „oder“, zehn Kommas. Nicht schlecht für den Anfang. Versuchen Sie den Satz einmal auswendig zu lernen und mündlich vorzutragen. Oder hilfsweise: zu verstehen.“ [1]

Neben der Überarbeitung der oben genannten Punkte soll die Fahrdienstvorschrift perspektivisch auch in Richtung eines schutzzielorientierten Regelwerks gestaltet werden. An dieser Stelle besteht eine enge Abstimmung mit dem Projekt aus der Digitalen Schiene Deutschland und dem neuen betrieblichen Regelwerk für den digitalen Bahnbetrieb, intern die Richtlinie 400 genannt (siehe auch den Beitrag ab S. 18 in dieser Ausgabe).

Bei beiden Entwicklungen wird auf die gleiche Verwendung der Schutzziele geachtet. Für eine zukünftig klare, einfache und gut lesbare Gestaltung der Fahrdienstvorschrift wird es Gestaltungsvorgaben geben, die den strukturellen Rahmen beim Schreiben von Regelwerk vorgeben. Hierzu zählen grundlegende Elemente wie beispielsweise zu verwendende Standardgliederung für die einzelnen Richtlinien, Anforderungen an einen Fließtext, Visualisierungen oder die korrekte Verwendung von Listen und Tabellen. Dabei wird das Rad nicht neu erfunden, sondern auf aktuelle Erkenntnisse aus der Wissenschaft zurückgegriffen.

Das Herzstück der Neugestaltung ist jedoch die neue Grundstruktur. Jede einzelne Richtlinie der Fahrdienstvorschrift wird zukünftig mit dem Schutzziel bzw. dem Zweck beginnen. Dies hilft, die Inhalte besser einordnen und damit verstehen zu können. Danach sollen die konkreten Regelungen, Wortlaute, Dokumentationen und Hinweise zu örtlichen Regelungen folgen. Diese Gestaltungsvorgaben an sich werden aktuell mit den Stakeholdern finalisiert, weil sie selbst den Charakter von Regelwerk besitzen und deswegen auch der Mitbestimmung unterliegen.

Ausblick

Aus gut nachvollziehbaren Gründen kann ein solch bedeutsames Regelwerk nicht von heute auf morgen auf links gekrempelt werden. Es bedarf eines längeren Vorlaufs und die Abstimmung mit vielen Stakeholdern. Deswegen wird die Realisierung schrittweise erfolgen.

Um die neuen Leitlinien auch gut in die Umsetzung zu bekommen und bei der Gestaltung der Texte direkt auch die Zuordnung zu den Filterkriterien zu gewährleisten, wird aktuell auch an einem neuen Redaktionssystem gearbeitet. Dies wird die Arbeit der Regelwerksfachautoren zukünftig erheblich erleichtern und das bisherige Regelwerksformat 2010 ablösen.

Die Überarbeitung der Fahrdienstvorschrift ist kein leichtes Unterfangen und braucht einen langen Atem, jedoch ist die Chance, die sich daraus ergibt, riesig.

Quelle
[1] Zitiert nach: „Juristendeutsch. Echt jetzt? Juristendeutsch?“ von Prof. Dr. Roland Schimmel, Professor für Wirtschaftsprivatrecht und Bürgerliches Recht an der Frankfurt University of Applied Sciences. Online unter: www.beck-shop.de/content/ausbildung/aus-bildung-jurastudium/juristendeutsch/15254/ (abgerufen am 12.05.2023)


Artikel als PDF laden