Merkliste aktualisiert
Home > Themenwelten > Fahrzeuge > Elektrisch ohne Oberleitung

Batterietriebzüge im Fahrgastbetrieb

Elektrisch ohne Oberleitung

Ein BEMU der NAH. SH vom Typ Flirt beim Laden im Bahnhof
Ein BEMU der NAH. SH vom Typ Flirt beim Laden im Bahnhof (Foto: NAH.SH)

Schleswig-Holstein ist ein Bundesland mit viel Fläche, wichtigen internationalen Bahnstrecken, wenig Oberleitung und einer innovationsbereiten Politik. Dies ist die Basis für ein Projekt, welches das Bahnfahren auf den nicht elektrifizierten Strecken in Schleswig-Holstein nicht nur komfortabler macht, sondern auch ein großer Schritt Richtung Klimaneutralität des öffentlichen Personennahverkehrs sein sollte.

Dass die schleswig-holsteinischen Akkuzüge eines der meist beobachteten Projekte der Branche der letzten Jahre werden würde, ahnte zu Beginn im Jahr 2015 aber noch keiner der Verantwortlichen.

Das Ziel: Abschied vom Diesel

Erste Überlegungen, wie Schleswig-Holstein sich vom Diesel bei den Triebzügen verabschieden könnte, entstanden in den Jahren 2015/2016. Zu dem Zeitpunkt war allen Verantwortlichen klar, dass eine Elektrifizierung des kompletten Bahnnetzes in Schleswig-Holstein zu viel Zeit kosten würde. Daher überlegten Vertreter*innen des Landes, der NAH.SH und die Berater der NAH.SH in ersten Gesprächen mit den potenziellen Herstellern, welche Alternativen es zum Diesel auf den Nebenstrecken geben könnte.

Ergebnis dieser Markterkundung war eine technologieoffene Ausschreibung für Triebzüge mit einem alternativen und klimafreundlichen Antrieb. Der erste große Schritt in der Umsetzung war die Erteilung des Zuschlags an die Stadler Deutschland GmbH (Stadler) am 1. Juli 2019 für 55 batterieelektrische Triebzüge (Battery Electric Multiple Unit, BEMU) und einer Instandhaltung inkl. Werkstatt für 30 Jahre.

Die Umsetzung

Den Zuschlag gaben das Land Schleswig-Holstein und die NAH.SH für einen batterieelektrischen Triebzug, den es so noch nicht gab. Es gab von einigen Herstellern Testträger, aber noch keine Erfahrung mit dem täglichen Linienbetrieb. Stadler hat mit Hilfe seines Testträgers viele wertvolle Erfahrungen gesammelt, die in die Entwicklung des FLIRT-Akku für Schleswig-Holstein mit eingeflossen sind.

Die Basis für den BEMU waren die erprobten Elektrotriebzüge des Typ FLIRT (Flinker leichter Intercity- und Regional-Triebzug), von denen der elektrische Antriebsstrang weitestgehend übernommen werden konnte. Der größte Unterschied zum Standard-FLIRT sind die elektrischen Speichersysteme (ESS = Akku), die auf und unter dem Fahrzeug verteilt werden mussten. Denn die ESS haben nicht nur einen erheblichen Platzbedarf, sondern bedeuten auch ein deutliches zusätzliches Gewicht.

Im Frühjahr 2022 war die Entwicklung der Vorserie insoweit abgeschlossen, als erste Fahrten und damit der Zulassungsprozess beginnen konnte. Die Zulassung bekam der BEMU am 31. August 2023 mit einer Verzögerung von etwa zehn Monaten. Grund für die Verzögerungen waren die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die weltweiten Lieferschwierigkeiten.

Neben der Entwicklung des neuen Triebzuges mussten in Schleswig-Holstein in den Jahren bis zum Betriebsstart auch einige Infrastrukturprojekte umgesetzt werden. An einigen Bahnhöfen mussten Gleise elektrifiziert werden. An zwei Bahnhöfen (Kiel und Flensburg) galt es, Bahnstrecken für einige Kilometer zu elektrifizieren, damit die BEMU auch während der Fahrt noch nachladen können.

Die größten und innovativsten Infrastrukturprojekte waren aber drei Oberleitungsinselanlagen (OLIA) an der Westküste. Eine OLIA ist eine Oberleitung an einigen Gleisen in einem Bahnhof – etwa vom Einfahrtsignal bis zum Ausfahrtsignal, wo die BEMU während ihres Aufenthalts und der An- und Zufahrt zum Gleis laden können. Diese OLIA waren notwendig, weil an der Westküste noch keine Oberleitung vorhanden ist und die BEMU ansonsten den Linienbetrieb nicht erfolgreich hätten fahren können. Aktuell sind die OLIA aufgrund von technischen Problemen noch nicht in Betrieb. Erste Tests sind aber erfolgreich durchgeführt worden und ein Betriebsstart auf den Linien mit OLIA ist noch für das zweite Quartal dieses Jahres geplant.

Die Eisenbahnverkehrsunternehmen erixx Holstein und nordbahn wurden in separaten Ausschreibungen als Verkehrsunternehmen ermittelt, die die neuen Akkuzüge fahren. Beide Unternehmen haben für den Übergang eine sogenannte Transferflotte beigestellt bekommen. Aktuell sind diese Fahrzeuge auf den Strecken unterwegs, auf denen die Infrastruktur noch nicht fertiggestellt ist.

Foto: NAH.SH
Viel Fläche, wenig Oberleitung: Da eine vollständige Elektrifizierung zu aufwendig war, entschied sich Schleswig-Holstein für Batteriezüge (Foto: NAH.SH)

Der Betriebsstart

Der Tag der Tage in diesem Projekt war der Betriebsstart auf der Strecke Kiel–Lübeck–Lüneburg am 23. Oktober 2023. An diesem Tag fuhr erixx Holstein die ersten Umläufe im Fahrgastbetrieb mit den neuen batterieelektrischen Triebzügen. Der Start lief sehr erfolgreich und alle Beteiligten waren von dem Erfolg des Projektes überzeugt.

Es war aber auch allen klar, dass gerade in der Anfangszeit Probleme im Betrieb wahrscheinlich sind. Noch im Jahr 2023 kam es zu größeren Verfügbarkeitsproblemen. Die Ursachen dafür wurden schnell analysiert und konnten mit viel Motivation und Einsatz bei allen Beteiligten (Hersteller, Instandhalter, Eisenbahnverkehrsunternehmen und dem Land Schleswig-Holstein) minimiert werden. Die Fehler lagen vor allem in der Ansteuerung der ESS. Stadler konnte sie mit entsprechenden Softwareupdates beseitigen. Aktuell fährt die Flotte relativ stabil, aber noch nicht in der Verfügbarkeit, wie es der Werklieferungsvertrag vorsieht.

Die Fahrgäste sind aber schon jetzt total begeistert von den neuen Akkuzügen, da es nicht nur deutlich leisere Fahrzeuge sind, sondern auch moderne Triebzüge mit mehr Komfort: Steckdosen an jedem Platz, große Sitzabstände, helle Fahrgasträume, WLAN, ausreichend Platz für Fahrräder, separate Bereich für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen.

Fazit

Aus den ersten Überlegungen des Landes Schleswig-Holstein in Richtung einer neuen Antriebstechnologie im Jahr 2015 ist ein Projekt geworden, das den Umstieg auf einen klimaneutralen Schienenpersonennahverkehr mit Einsparungen von etwa 26.000 Tonnen CO2-Emissionen ermöglicht hat – auch ohne eine komplette Elektrifizierung der Nebenstrecken. Das Projekt brauchte und braucht in den nächsten Jahren aber weiter Partner, die mutige und innovative Schritte mit der NAH.SH gehen wollen und keine Angst vor den zukünftigen Herausforderungen haben.

Alle Projektinformationen und weitere Details unter:
akkuzug.nah.sh


Artikel als PDF laden