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Verkehrsunternehmen

Fachkräftemangel im ÖPNV: Die unterschätzte Herausforderung

Motiv der VDV-Kampagne „LieblingsbusfahrerIn” (Foto: VDV/Bildschön)

Es gibt viele Herausforderungen im öffentlichen Verkehr in Deutschland, doch die größte wird meiner Ansicht nach noch immer unterschätzt. Die Frage, ob wir künftig unsere in den verdienten Ruhestand gehenden Kolleg*innen ersetzen und halten sowie darüber hinaus zusätzliche Fach- und Arbeitskräfte gewinnen können, wird die größte von allen werden – wissend, dass es auch bei den Finanzen, dem rollenden Material, bei der Infrastruktur und der Digitalisierung große Baustellen gibt.

Doch die Problemstellungen bedingen und verstärken sich gegenseitig. In der großen Branchenumfrage des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) gibt jedes zweite Unternehmen an, in den letzten Jahren aus personellen Gründen den Fahrbetrieb zumindest zeitweilig eingeschränkt zu haben: Die Fahrpläne wurden ausgedünnt, Takte geweitet und manche Linie gestrichen. Niemand tut das gern. Das hatte vordergründig mit außergewöhnlichen Krankheitswellen zu tun. Die tiefere Ursache ist jedoch, dass die Personaldecke infolge des demografischen Wandels immer dünner wird.

Die „Baby Boomer“ gehen in den Ruhestand – und der öffentliche Personenverkehr hat hier einen besonders hohen Anteil, da die Branche über Jahre hinweg wegen politischer Sparvorgaben kaum Nachwuchs einstellen konnte. Viele Jahre durfte ÖPNV vor Ort nichts kosten, war oft nur ein lästiger Posten im öffentlichen Haushalt. Doch der Wind hat sich gedreht: Nicht nur im Personenverkehr, auch bei den Güterbahnen.

Höherer Bedarf und deutlich mehr Einstellungen

Harald Kraus
Harald Kraus (Foto: DSW21)

Um die Klimaschutzziele im Verkehrssektor bis 2030 zu erreichen, wird das Angebot von Bus und Bahn endlich als Teil der Lösung gesehen. Doch vor uns liegt dafür eine lange Strecke. Wir haben mittlerweile einen Arbeitnehmer*innenmarkt – und gleichzeitig einen Kulturwandel im Arbeitsalltag. Die Branche wird jährlich bis zu 8.000 Fahrer*innen für Bus und Tram gewinnen müssen, um das altersbedingte Ausscheiden von Kolleg*innen kompensieren zu können. Dabei ist noch nicht der Personalzuwachs erfasst, der für eine gelingende Klimawende notwendig ist.

Die VDV-Umfrage zeigt eine Branche, die im großen Stil einstellt: Insgesamt haben 82 Prozent der Verkehrsunternehmen 2022 mehr Personal eingestellt als noch 2021 – obschon bereits im Vorjahr und trotz Corona die Zahlen zugelegt hatten. Branche und Politik müssen dennoch neue Wege gehen, unsere guten Jobs besser, flexibler machen, die Ausbildung modernisieren und unsere Mitarbeiterschaft zufriedener machen.

Der VDV wird zur VDV-Jahrestagung in Leipzig Zahlen vorstellen, die die Personallage beim Schienengüterverkehr beschreibt. Der Mangel wirkt hier mittlerweile wachstumshemmend. Bewerber*innen haben eine attraktive Auswahl an Einstiegsmöglichkeiten, mit sicheren, zunehmend flexibleren, sinnstiftenden Jobs, die ihren Beitrag zum Klimaschutz, für höhere Verkehrssicherheit und lebenswertere Kommunen leisten: Vom Fahrpersonal über Kaufleute bis hin zu technischen und organisatorischen Spezialist*innen aller Couleur.

Freilich suchen wir für den klassischen Fahrdienst am stärksten, immerhin sind dort branchenweit fast 100.000 Menschen beschäftigt. 48 Prozent der Unternehmen geben an, dass die Besetzung von Positionen im Fahrdienst aktuell die größte Herausforderung ist, gefolgt von gewerblich-technischen (14) und Ingenieurs-Positionen (13). Die Verkehrsunternehmen stehen in Wettbewerb beispielsweise mit der Logistik- und Plattformbranche. Gleichzeitig werden wir als Branche mit der Bildungspolitik ins Gespräch kommen müssen, wenn 77 Prozent der Unternehmen sagen, dass sich die Qualifikation der Bewerber*innen (stark) verschlechtert hat.

Ruheständler, Studierende, Führerschein-Vorgaben

Die Branche ist gefordert, alles zu tun, um neue Zielgruppen anzusprechen und deren Bedürfnissen mit passenderen Angeboten zu begegnen: So ist es sinnvoll, dass die Verkehrsunternehmen auf dem Arbeitsmarkt gemeinsam auftreten und die Kräfte bündeln, so wie bei den Angeboten der VDV-Arbeitgeberinitiative in-dir-steckt-zukunft.de. Die dortige Jobbörse hat derzeit über 10.000 offene Stellen bundesweit.

Ruheständler oder solche, die es bald werden, gewinnen wir vermehrt für Nebentätigkeiten. Studierende müssen gezielter und frühzeitiger angesprochen werden, damit diese für Fahrdienste gewonnen werden können, was besonders zum Abdecken der Beförderungsspitzen und am Wochenende eine Entlastung ist. Wir wissen auch, dass wir Teilzeitmodelle ausbauen müssen, vor allem, wenn wir mehr Fahrerinnen beschäftigen wollen.

Auch im politischen Raum muss ein sachorientiertes Umdenken stattfinden: Wir brauchen eine Flexibilisierung von gesetzlichen Pflichtstunden bei der Ausbildung für den Führerschein der Klasse D, so dass das künftige Fahrpersonal frühzeitiger die Prüfung ablegen kann, sobald es die theoretischen und praktischen Fähigkeiten erlauben. Auch das Senken des Mindestalters von 24 auf 21 Jahre wäre seitens des Gesetzgebers eine zeitgemäße Maßnahme, um unabhängig von den Linienlängen in der gewerblichen Personenbeförderung tätig sein zu können. Nicht zuletzt setzt die Branche große Hoffnungen in die Modernisierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes.

Wir werden außerdem die Busfahrer*innen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, ihre Arbeit würdigen, die Vielfalt aufzeigen – und so das Image des Berufsbildes etwas verbessern. Denn die Kolleg*innen sind täglich draußen auf den Straßen für uns alle im Einsatz. Mit weiteren Partnern rief der VDV darum den Wettbewerb „LieblingsbusfahrerIn“ ins Leben. Bis 30. Juni 2023 können Fahrgäste online unter lieblingsbusfahrerIn.de ihre persönliche Busgeschichte erzählen und ihren oder ihre Lieblingsbusfahrer*in nominieren. Eine Jury wählt am Ende die bewegendsten Geschichten aus und kürt die Sieger*innen. Ein kleiner Baustein, auf den viele weitere folgen müssen.


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