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Hochschul-Kooperation

Digital Rail – Köpfe für die Digitalisierung

Personen im Zug mit Bildschirmen zur Schulung
(Foto: HPI)

Das neue Digital Rail-Curriculum soll Wissen des Eisenbahnwesens, des Zulassungswesens und der Informatik vermitteln. Gleichzeitig soll der „culture clash“ zwischen Ingenieuren und Informatikern adressiert werden. Die Beteiligten sollen ein grundsätzliches Verständnis für die Aufgaben und Herangehensweisen der jeweils anderen Domäne entwickeln. Neben Ringvorlesungen und Projekt­arbeiten trifft insbesondere die gemeinsame Digital Rail Summer School (im Digitalen Testfeld Bahn), unter anderem mit den Themenschwerpunkten „Standards für Digitale Leit- und Sicherungstechnik“, „IT-Sicherheit“ und „Risikoanalyse“, bei den Studierenden auf besonders große Resonanz.

Die Ambitionen der Deutschen Bahn hinsichtlich Automatisierung und Digitalisierung sind beachtlich. Unter anderem gehört dazu, mittelfristig den existierenden Flickenteppich in der Leit- und Sicherungstechnik (LST) in Deutschland zu vereinheitlichen. Die Vorteile sind vielfältig. Zum einen wird so die Anzahl komplexer Schnittstellen zwischen verschiedenen Stellwerkstypen geringgehalten, was sich unter anderem sowohl bei der Beschaffung als auch bei der Effizienz der Instandhaltung auszahlen soll. Aber auch aus betrieblicher Sicht ist eine Vereinheitlichung attraktiv, beispielsweise vereinfachen sich so die Anforderungen an die Triebfahrzeugführer*innen, da weniger Variation hinsichtlich Systemen und Betriebsvorschriften beherrscht werden muss.

Notwendig zum Erreichen der Ziele bei der Digitalisierung im Bahnsystem sind neben dem politischen Willen vor allem auch Menschen, um diese umzusetzen. Dabei sind die Aufgaben vielfältig und reichen von Planung und Bau bis hin zur konkreten Systementwicklung. Doch was wird konkret an Wissen benötigt? Schaut man detaillierter in die Themen, so braucht man im Eisenbahnsektor neben vielen anderen Professionen vor allem für die letztgenannte Aufgabe Verkehrsingenieure für die bahnbetrieblichen Fragen und Informatiker für deren Umsetzung in modernen Systemen.

Digitalisierung des Bahnsystems bedeutet nicht nur die Einführung neuer Geräte und computergestützter Verfahren, sondern Digitalisierung steht auch für neue Herausforderungen bei der Aus- und Weiterbildung aller Beteiligten. Digitalisierung ist ein zentrales Thema, das in allen Bereichen Anwendung findet und diese auf neue Art verbindet. Für diese Aufgabe müssen Informatik-Sachverstand mit Wissen aus Eisenbahnbetrieb und Zulassungswesen kombiniert werden. Kein einziger Studien- oder Ausbildungsgang bringt heute alle diese Aspekte unter einen Hut. Gleichzeitig saugt die Branche, einem Schwamm gleich, derzeit Nachwuchs förmlich auf.

Schaut man sich den Arbeitsmarkt an, sieht es eher schlecht aus. Es herrscht ein Fachkräftemangel sowohl im Bereich der Informatik als auch bei den Verkehrsingenieur*innen. Hinzu kommt, dass bei den Informatiker*innen der Bedarf über alle Sektoren hinweg riesig ist, so dass der Bahnsektor hier im Konkurrenzkampf steht mit den Jobangeboten vieler anderer. Auch Studierende im Verkehrsingenieurwesen sind begehrt. Gerade der Bereich der Entwicklung und, ganz wichtig, Genehmigung und in Inbetriebnahme von LST hat es hier schwer, sich als attraktiver Arbeitsmarkt zu präsentieren.

Selbst wenn ausreichend Mitarbeitende da sind, bedeutet dies nicht, dass die Zusammenarbeit reibungslos funktioniert. Die Herangehensweise an Aufgaben ist in beiden Disziplinen oftmals grundlegend unterschiedlich. Während im Eisenbahnwesen meist ein strukturierter, stark formalisierter und häufig linearer Systementwicklungsablauf verfolgt wird (das V-Modell aus DIN EN 50126), arbeiten Informatiker gern und häufig agil, Ideen werden schnell umgesetzt und Software nachträglich geschärft. Aber jedes System im sicherheitskritischen Bereich der Bahn muss besonderen Anforderungen zum Beispiel an Zuverlässigkeit und Nachvollziehbarkeit genügen, was den Einsatz gängiger Programmiersprachen, wie Java und Python, zumindest erschwert, wenn nicht gar ausschließt.

Nicht zuletzt sind Verkehrsingenieur*innen im Bahnbereich darauf angewiesen, Systeme zuzulassen. Dies bedeutet, dass alle Details nicht nur vorher geklärt sein müssen, sondern auch, dass umfassende Anforderungen an den Entwicklungsprozess gestellt werden. Und ein zugelassenes Produkt sollte möglichst nicht mehr modifiziert werden. Dies ist diametral zum Konzept von regelmäßigen System­updates und -patches. Es ist unbestritten, dass zur Schaffung eines modernen Eisenbahnsystems Expert*innen beider Fachgebiete zusammenarbeiten und eine gemeinsame Sprache finden müssen.

Die Idee: ein neues Curriculum

Das Ziel des Digital Rail-Curriculums besteht darin, Wissen des Eisenbahnwesens, des Zulassungswesens und der Informatik zu vermitteln, aber vor allem auch, das Verständnis von Ingenieur*innen und Informatiker*innen untereinander zu fördern. Es geht nicht darum, aus Informatiker*innen Verkehrsingenieur*innen zu machen, oder umgekehrt. Jedoch sollte bei allen Beteiligten ein grundsätzliches Verständnis für die Aufgaben und Herangehensweisen der jeweils anderen Beteiligten vorhanden sein, da dies die Zusammenarbeit vereinfacht und im besten Fall Missverständnisse ausschließt.

Ein Ansatz ist es, Verkehrsingenieur*innen und Informatiker*innen gleichermaßen durch spannende Projekte und innovative Vorgehensweisen für den Bahnsektor zu gewinnen und dabei dafür zu sorgen, dass sie die durchaus unterschiedlichen Schwerpunkte kennenlernen und alle Beteiligten voneinander lernen. Ein Ansatz ist dabei die Kooperation von Hochschullehrenden über Fächergrenzen hinweg.

Um die Ziele des Curriculums zu erreichen, hören die Studierenden Vorlesungen aus dem jeweils anderen Bereich. Darüber hinaus gibt es gemeinsame Gastvorlesungen sowie Projektarbeiten und nicht zuletzt die abschließende, gemeinsame Digital Rail Summer School (in den letzten drei Jahren im Erzgebirge am Digitalen Testfeld Bahn), bei der es wiederum Vorträge und auch praktische Übungen gibt. Gerade bei der Labor- und Demophase im Erzgebirge steht vor allem auch der direkte, persönliche Austausch und das Miteinander im Vordergrund.

Die Beteiligten

Das Digital Rail-Curriculum entstand 2019 als Initiative der Professur „Betriebssysteme und Middleware“ des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) für Digital Engineering, Universität Potsdam und der Professur „Bahnbetrieb und Infrastruktur“ am Institut für Land- und See­verkehr (ILS), Fakultät Verkehrs- und Maschinensysteme, Technische Universität Berlin.

Inzwischen ist der Kreis gewachsen und es beteiligen sich neben den Initiatoren HPI und TU Berlin weitere Universitäten (TU Dresden, TU Chemnitz, TU Ilmenau und Uni Passau) sowie Partnerfirmen wie IfB, Incyde und Frauscher. Gefördert wird die Veranstaltung durch DB Netz, DB Systel sowie das DB Technology Institute. Neben Studierenden der genannten Universitäten belegen auch Trainees von DB Netz als Zuhörer*innen und Projektmitarbeitende die Digital Rail-Veranstaltung.

Die Vorlesungsphase

Die beteiligten Universitäten haben entsprechend der bei ihnen gültigen Randbedingungen Module angelegt, innerhalb derer die Veranstaltungen belegt werden und für die es zum Abschluss des Semesters eine Note geben kann. Die Randbedingungen variieren dabei durchaus in Abhängigkeit des Studienfaches und der Universität stark. Allen gemeinsam ist jedoch, dass für das erfolgreiche Bestehen des Moduls Vorlesungen gehört werden müssen sowie die Projektarbeit erfolgreich abgeschlossen werden muss.

Bei den Vorlesungen ist zu unterscheiden zwischen asynchronen und synchronen Angeboten. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Chance ergeben, dass die unterschiedlichen Beteiligten tatsächlich unkompliziert zusammenarbeiten konnten. So stellen alle Beitragenden am Anfang des Semesters vorab aufgenommene Vorlesungsvideos in einer Online-Bibliothek zur Verfügung. Je nach Studiengang haben die Studierenden eine definierte Anzahl daraus zu hören. Als Beispiel sei hier das Vorgehen der TU Berlin genannt, deren Teilnehmer im wesentlichen Studierende im Master „Planung und Betrieb im Verkehrswesen“ sind. Als prüfungsrelevant mussten zum Beispiel gehört werden:

  • Screencasts zum Thema Softwareentwicklung (Programmierung, IT-typische Prozesse, Testen mit Co-Simulation und Testbed)
  • Screencasts zum Thema Simulation (Einführung in die Simulation, Evaluation von Modellen, Simulationsarten, Was sind Modelle?)
  • Grundlagen IT-Security
  • Formalisierung der LST-Planung mit PlanPro

Gastvorlesungen

Sowohl während des Semesters als auch während der Labor- und Demophase der Digital Rail Summer School konnten diverse Gastvorträge von Vortragenden aus der Industrie zu unterschiedlichen Themen angeboten werden. Die Bandbreite war dabei sehr groß und ging von Themen aus der Entwicklung von Bahnautomatisierungstechnik über Bahnbau bis hin zur Genehmigung und der Vorstellung von aktuellen Themen wie der Umsetzung von ETCS.

Die Projektphase

Schon mit Beginn des Sommersemesters wurden die Studierenden zu heterogenen, universitätsübergreifenden Projektgruppen formiert. Insgesamt wurden drei Projekte angeboten (EULYNX-live, Hackathon, Risikoanalyse). Diese fanden semesterbegleitend statt, wobei die konkrete Umsetzung von den jeweils Durchführenden abhing. Manche Teams haben coronabedingt vollständig verteilt und digital gearbeitet. Allen Angeboten gemeinsam war, dass die Ergebnisse im Rahmen der Digital Rail Summer School dem Fachpublikum präsentiert wurden. Dieses Treffen konnte vor Ort und gemeinsam mit allen Teilnehmern stattfinden und geriet so zu einem Höhepunkt.

Projekt EULYNX-live

Im EULYNX-Konsortium entwickeln europäische Eisenbahn-Infrastrukturbetreiber eine gemeinsame Architektur für Systeme der digitalen LST. Dies beinhaltet die Spezifikation digitaler Schnittstellen zwischen Teilkomponenten wie dem Stellwerk, Signal- und Weichensteuerungen sowie der Zugerkennung. Obwohl sich die Schnittstellen noch in der Entwicklung befinden, gibt es auf Basis der vorläufigen Spezifikationen bereits erste Implementierungen aus der Industrie.

Der Fokus im diesjährigen Projekt EULYNX-live liegt auf der Testautomatisierung. So konnten Studierende im Rahmen der Projektarbeit demonstrieren, wie aus einer digitalen Planung (im planpro.xml-Format) mit Hilfe eines KI-Regelwerks eine Stellwerkslogik generiert wird, die dann für die automatische und systematische Durchführung von Systemtests geeignet ist (Abbildung 1). Im Zuge der Testausführung wurden sowohl simulierte wie auch real installierte EULYNX-Komponenten angesprochen. Im Digitalen Testfeld Bahn wurden dazu mit Unterstützung der Firmen Thales und Frauscher ein KS-Signal sowie eine Reihe von Achszählern angeschlossen – die generierte Stellwerkslogik konnte am Digital Rail Demo Day am 9. September 2021 dem Fachpublikum demonstriert werden.

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Abbildung 1: Ansteuerung von EULYNX-Object Controllern generiert auf Basis einer Planpro-Planung (Quelle: HPI)

Projekt Hackathon

Für die Kommunikation zwischen den Komponenten eines EULYNX-konformen Systems wird das RaSTA-Protokoll (Rail Safe Transport Application – RaSTA) eingesetzt. RaSTA verfügt über die für den Bahnbetrieb nötigen Safety-Eigenschaften. Dazu gehört eine verlässliche Übertragung von Nachrichten ohne unbemerkten Paketverlust, die Überwachung der Kanalgüte mittels Lebendigkeits-Nachrichten, eine garantierte Zustellung von Nachrichten innerhalb eines Zeitfensters und die Nutzung mehrerer Transportkanäle zur Steigerung der Ausfallsicherheit.

Allerdings ist die Verwendung des für die Verlässlichkeit erforderlichen Sicherheitscodes (0, 8 oder 16 Byte), der als MD4-Hash-Wert über Datenpakete erstellt wird, eine Konfigurationsoption. Im Projekt Hackathon haben sich Studierende tiefgreifend mit dem RaSTA-Protokoll auseinandergesetzt und konnten anhand einer Open-Source-Implementierung diskutieren, welche Angriffsszenarien bei falsch konfigurierten Systeminstanzen denkbar wären – eine Diskussion, die derzeit auch in der Industrie geführt wird und im Feld zum Einsatz weitere IP-Security-Protokolle führt.

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Abbildung 2: Studierendenprojekt – Risikobetrachtungen für einen (fiktiven) Rangierroboter (Quelle: BBI)

Projekt Risikoanalyse

In der Projektarbeit zum Thema Risikoanalyse hatten die Studierenden die Aufgabe, beispielhaft die ersten vier Phasen des Lebenszyklus, das heißt Systemkonzept, Systemdefinition, Risikoanalyse und Anforderungsableitung, nachzuvollziehen. Dies geschah am Beispiel eines automatisiert agierenden Rangier­roboters. Insgesamt arbeiteten im Sommer 2021 14 Studierende in 3 Gruppen an diesem Thema. Aufgrund der teilweisen sehr unterschiedlichen Hintergründe waren die Herangehensweise verschieden und die erdachten Systeme nur bedingt vergleichbar.

Das Ziel der Projektarbeit war auch mitnichten eine perfekte Analyse vorzulegen. Vielmehr sollten die Teilnehmenden unter anderem erkennen, wie komplex die Aufgabe ist, dass es häufig nicht möglich ist, einfach zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und welche weitreichenden Auswirkungen scheinbar unwichtige Festlegungen haben können.

Digital Rail Summer School 2021:
Labor- und Demophase

Die Labor- und Demophase der Digital Rail Summer School fand vom 6. bis 10. September 2021 im Erzgebirge statt. Durch eine enge Kooperation mit der Erzgebirgsbahn und der PRESS war es möglich, den Studierenden ein umfassendes Programm zu bieten. Neben den oben bereits erwähnten Vortragsanteilen fanden Sonderzugfahrten statt. Erstmals war es auch möglich, bahnbetriebliche Übungen im Netz der Pressnitztalbahn durchzuführen. Zwei Themen wurden dabei abgedeckt, zum einen die Zugvorbereitung mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Bremsprobe. Und zum anderen das Kennenlernen von grundsätzlichen Prinzipien der Sicherungstechnik am Beispiel von Schlüsselsperren und der Abhängigkeit von zum Beispiel Weichen und Gleissperren.

Personengruppe vor einem Bahnhofsgebäude
Abbildung 3: Bahnbetriebliche Übungen bei der Pressnitztalbahn (Foto: HPI)

Ein weiteres Highlight war der von DB Netz und DB Systel durchgeführte Digital Rail Demo Day 2021 in Scheibenberg, an dem die Studierenden teilnehmen konnten. Mit über 50 Ausstellern, vielen Sonderzugfahrten und 500 Besuchern hatten sie die Möglichkeit, sich ein Bild von der Themenbreite im Eisenbahnwesen zu machen und viele Gespräche zu führen.

Ausblick

Digitalisierung und Automatisierung sind Ansätze, mit denen das Bahnsystem für die Zukunft fit gemacht werden soll. Nur so kann es uns gelingen, den Modal Shift signifikant zu verändern und mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Damit dies gelingt, müssen wir Menschen dafür begeistern, im Sektor zu arbeiten. Die politisch gewollte Verkehrswende braucht neue Aus- und Weiterbildungskonzepte: „Wir schaffen die Köpfe der Digitalisierung.“

Das Digital Rail-Curriculum geht hier neue Wege: Mit fach- und einrichtungsübergreifender, enger Zusammenarbeit von Universitäten und Praktikern und durch eine attraktive Mischung von klassischer Lehre, Projektarbeit und Summer School. Damit werden Interessierte, vor allem Studierende, ganz verschiedener Fachhintergründe zusammengebracht und Wissen zu den Themen Bahn, Zulassung und Informatik vermittelt. Gleichzeitig verstehen sich die Partner als Nukleus und Kern eines immer weiter wachsenden Netzwerks, welche die Kompetenzen im Bereich Digital Rail bündelt und koordiniert. Besonders hier sind weitere Aktivitäten geplant.


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