
Mit seinem ambitionierten Reformkonzept für die Schiene will der Bundesverkehrsminister für zufriedenere Kunden sorgen. Nach den ersten Personalentscheidungen soll eine Taskforce nun Vorschläge erarbeiten, um die Agenda des Ministers mit Leben zu füllen. Darunter: Die Optimierung des Angebots an hochbelasteten Knoten. Das lässt nichts Gutes erahnen.
Die Knoten sind schuld. An der Unpünktlichkeit der Züge. Sie zu entlasten, sei „aus fachlicher Sicht unverzichtbar“. Weniger Züge in stark frequentierten Hauptbahnhöfen sei zwar ein „Tabubruch“, aber anders gehe es kurz- und mittelfristig nicht, wenn man das System stabilisieren wolle.
Was vermeintliche und tatsächliche Fahrplanexperten seit geraumer Zeit diskutieren, findet zunehmend Widerhall in der Politik. Vom Bundeskanzler bis zum Bundesverkehrsminister postulieren Spitzenpolitiker in reichweitenstarken Medien die Parole „Mehr Pünktlichkeit durch weniger Züge“ und hoffen auf den Beifall von frustrierten und verspätungsgeplagten Bahnreisenden. Geframed wird das Ganze als neuer Realismus und „unideologische Verkehrspolitik“.
„Mit einer Agenda des Schrumpfens und des Stillstands geht die Schienenpolitik in die falsche Richtung
CO2-Ziele? Verschieben! Verbrenner-Aus? Bitte später! Mehr Marktanteile für den Schienenverkehr zulasten von Straßen- und Flugverkehr? Stand in den vergangenen Jahrzehnten immer in Koalitionsvereinbarungen, nun aber nicht mehr. Stand schließlich nie wirklich im Zentrum der Verkehrspolitik.
Da passt es gut zur neuen Realpolitik, wenn Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder in seiner „Agenda für zufriedene Kunden auf der Schiene“ die Pünktlichkeitsziele gleich mitschrumpft. Von einer ursprünglich angestrebten 80 Prozent-Pünktlichkeitsquote im Fernverkehr auf nun 70 Prozent zum Jahresende 2029.
Weniger ist nicht wirklich mehr

Ist in der Bahnpolitik weniger wirklich mehr? Ist es gut, dass mit Ausnahme der Fehmarnbelt-Hinterlandanbindung so gut wie kein Neu- und Ausbau in Deutschland mehr stattfindet und wir uns nahezu ausschließlich auf die Sanierung des bestehenden Schienennetzes konzentrieren? Ist es richtig, angesichts kümmerlicher 1,6 Prozent mit ETCS ausgerüsteter Schienenstrecken nun auf neue Digitale Stellwerke ganz zu verzichten und beim Ersatz alter Stellwerke lediglich die Vorstufe „ETCS-ready“ zu wählen? Ist es angemessen, wenn die Bundesregierung angesichts eines nicht einmal zu zwei Dritteln elektrifizierten Schienennetzes ankündigt, im Jahr 2029 „null Streckenkilometer“ elektrifizieren zu wollen?
Vor diesem Hintergrund bekommt die Parole „Mehr Pünktlichkeit durch weniger Züge“ eindeutig Schlagseite. Im Zweifelsfall bedeutet sie nur weniger Züge. Das ist für die Politik schließlich bequemer, billiger und schneller zu haben als der überfällige Ausbau des Netzes. Oder als eine Kapazitätssteigerung des Netzes durch Digitalisierung.
Aus Sicht der Allianz pro Schiene geht die „Weniger-Züge-Debatte“ in die völlig falsche Richtung. Deutschland darf sich bahnpolitisch nicht selbst verzwergen. Mit einer Stillstands- oder Schrumpfagenda verlieren wir den Anschluss. Andere Staaten zeigen uns, wie es geht.
In der Schweiz, in Österreich, den Niederlanden oder Dänemark ist das Netz stärker befahren als in Deutschland und die Pünktlichkeit trotzdem höher – dank konsequentem Kapazitätsausbau. Norwegen will in den kommenden zehn Jahren das gesamte Schienennetz digitalisieren. Indien hat in den vergangenen sieben Jahren in einem beispiellosen Kraftakt 5.333 Streckenkilometer elektrifiziert – pro Jahr. Das riesige Schienennetz ist nun nahezu komplett mit Oberleitungen ausgestattet.
Weniger Züge machen den Bahnverkehr nicht pünktlicher. Weniger Züge machen die Bahnpolitik ambitionsloser. Weniger Züge sind auch nicht im Interesse der Bahnkunden. Die Menschen wollen mehr Züge. Und pünktliche Züge.

Kreativität ist gefragt
Wenn es in hochbelasteten Knoten Zielkonflikte gibt, ist Kreativität und Intelligenz gefragt. Aus zwei Zügen kann an weniger stark befahrenen Bahnhöfen ein langer Zug gemacht werden, der dann stark belastete Knotenbahnhöfe entlastet. Dieses „Vereinigen“ von Zugteilen allerdings in einem der republikweit am stärksten ausgelasteten Bahnhöfe zu praktizieren, wie es derzeit in Hannover geschieht, belastet Knotenbahnhöfe statt sie zu entlasten.
Auch Türstörungen können minimiert und Reisende an Bahnsteigen besser gelenkt werden. In manchen Knoten können neben dem Hauptbahnhof auch andere Bahnhöfe für Fernverkehrshalte genutzt werden. All das kann die Pünktlichkeit in hochbelasteten Knoten verbessern – ohne das Sitzplatzangebot für die Fahrgäste zu reduzieren.
Das Gefährliche an der unterkomplexen Parole „Mehr Pünktlichkeit durch weniger Züge“ ist die Entlastungsfunktion für die Politik. Verfängt das Deutungsmuster, generelle Angebotsreduzierungen seien für einen Übergangszeitraum alternativlos, um pünktlichere Züge fahren zu können, wird die Politik dies als Freibrief für ein „Weiter so“ in der Verkehrspolitik nehmen – zumal die Dauer des „Übergangszeitraums“ völlig offen ist. Neue Autobahnen ja, neue Schienenstrecken nein – stattdessen weniger Züge in den Knoten.
Die Knoten sind schuld an der Unpünktlichkeit? Nein, die Verkehrspolitik, der verschleppte Infrastrukturausbau und unausgereifte Prozesse im Betrieb sind schuld.
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