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EBL-Kongress des VDV

Risiko und Sicherheit im Bahnbetrieb: Europa ist überall

Moderator Carsten Hein eröffnet eine Themensession auf dem EBL-Kongress des VDV in Kassel
Moderator Carsten Hein eröffnet eine Themensession auf dem EBL-Kongress des VDV in Kassel (Foto: Bahn Fachverlag GmbH)

ECM, SMS, ERA – Europäische Institutionen und Regelungen geben inzwischen überall den Ton an, wenn es um den Schienenverkehr geht. Das spiegelte sich auch auf dem diesjährigen Eisenbahnbetriebsleiter-Kongress des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen wider. Neben dem umfassenden Themenfeld Risiko- und Sicherheitsmanagement ging es in Kassel auch um Rechtliches, Prozesse und innovative Technik an der Schnittstelle von Fahrzeugen, Infrastruktur und Betrieb.

Am Anfang stand die Erkenntnis, dass im kommenden Jahr eine größere Räumlichkeit erforderlich ist, was an der hohen Auslastung des 12. Fachkongress für Eisenbahnbetriebsleiter*innen (EBL) lag. Mit dieser aus Gastgebersicht erfreulichen Mitteilung eröffnete Dr. Carsten Hein, Vorsitzender des Ausschusses für Eisenbahnbetrieb beim VDV, die diesjährige Veranstaltung, welche er wie gewohnt auch moderierte.

Mit dem Erkennen und Beherrschen von Risiken und dem Umgang mit gefährlichen Ereignissen beschäftigte sich der erste Themenblock zum Bahnbetrieb. Niels Bieneck berichtete von einigen Schwerpunkten aus der Aufsichtsarbeit des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA). Darunter waren die Umsetzung eines EU-Handlungsplans zur Verladung von Gütern bei Transporten mit Sattelaufliegern im Nachgang des Unfalls auf der dänischen Great Belt Bridge in 2019, die Ermittlung von Sicherheitsrisiken auf Gleisbaustellen und ihre Berücksichtigung im Sicherheitsmanagementsystem (SMS) oder die Fahrwegbeobachtung beim Rangieren mit Zweiwegebaggern.

Auffällige Themen, bei denen das EBA im Zuge der Vor Ort-Audits im vergangenen Jahr relevante Mängel festgestellt hatte, waren die Prüfung der Streckenanforderungen durch Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) bei Trassenbestellungen und der Kompetenznachweis beim Einsatz von Fremdpersonalen. Einen wichtigen Hinweis gab Bienert in Bezug auf die Sicherheitsbescheinigung (SiBe): Ohne diese ist der Einsatz eines/r EBL erforderlich, mit ihr ist ein/e EBL nur eine Option. In jedem Fall gelte aber: ganz oder gar nicht – ein/e EBL muss, sofern eingesetzt, im SMS beschrieben sein.

Wie die EU-Verordnung 2018/762 über die gemeinsamen Sicherheitsmethoden (CSM) umgesetzt werden kann, erläuterte Matthias Warstat vom Ingenieurbüro Warstat am Beispiel der Zugvorbereitung. Alle EVU, die Gefahrgut transportieren, müssen sich mit den diesbezüglichen Risiken beschäftigen und eine SiBe erwerben. Das CSM verglich der Referent mit der kontinuierlichen Erkundung und Beurteilung des vorausliegenden Weges beim Bergsteigen. Dabei müssen mögliche Gefährdungen, ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten und Konsequenzen bedacht werden. Die Anwendung des Regelwerkes trage dazu bei, das Risiko des Eintritts dieser Gefahren zu senken, aber auch jene Risiken zu berechnen, die nach gegebenen Kriterien als vertretbar gelten.

Betriebliche Risiken, die sich aus dem Aufgleisen ergeben, sind Gegenstand der VDV-Mitteilung 2003, die Ludger Schmidt von der Häfen und Güterverkehr Köln AG vorstellte. Eine Herausforderung dabei sei, dass die Fahrzeuge anders als früher nicht immer in der Hand des EVU sind, sondern von verschiedenen Leasing-Dienstleistern mit eigenem Personal bereitgestellt werden. Bei der Zusammenarbeit von EVU und Externen seien unter anderem Zuständigkeiten und Kompetenzen zu regeln, also die Frage, was Aufgleiser*innen können müssen und wer ihnen vor Ort weisungsberechtigt ist. Kommt es zu Entgleisungen, dürfe die Dokumentation der Ursachen nicht vernachlässigt werden, um entsprechende Lehren aus den Unfällen ziehen zu können, unterstrich Schmidt.

Über den aktuellen Stand weiterer VDV-Schriften berichteten Götz Walther und Dietmar Litterscheid, beide Fachbereichsleiter Eisenbahnbetrieb beim VDV. So habe der Verband im Frühjahr umfangreiche Änderungswünsche zum Betriebsregelwerk an die Europäische Eisenbahnagentur (ERA) übergeben. In Arbeit ist außerdem eine Neufassung der VDV-Mitteilung zu Arbeiten im Gleisbereich bei nichtbundeseigenen Bahnen.

Die barocke Orangerie bot den Rahmen für den Ausklang des ersten Kongresstags
Die barocke Orangerie bot den Rahmen für den Ausklang des ersten Kongresstags (Foto: Bahn Fachverlag GmbH)

Digitaler Befehl und Schnittstelle Betrieb-Fahrzeuge

Für rege Diskussionen sorgten zwei Vorträge von Referenten der Deutschen Bahn. Matthias Kopitzki von DB Netz AG brachte dem Publikum die Prozessinnovation Digitaler Befehl näher (dazu ausführlich in Deine Bahn 2/2023). An der Abkehr vom etablierten Weg der Übermittlung von Anweisungen der Fahrdienstleitung an die Fahrzeugführenden äußerten einige Anwesende Zweifel und wiesen auf Risikofaktoren wie mögliche Ablenkung durch Mobilfunknutzung, unzureichende Netzabdeckung oder mangelndes Befehlsverständnis infolge fehlender Wiederholung hin.

Umstritten hinsichtlich des Verhältnisses von Nutzen und Aufwand war die Streckenkompatibilitätsprüfung, welche David Miller von DB Regio AG erläuterte. Kritik aus dem Publikum bezog sich u.a. auf die Qualität und Verfügbarkeit von Streckendaten bei der DB Netz AG und die Leistungsfähigkeit der Werkzeuge, welche von EU-Kommission und ERA bereitgestellt werden, verbunden mit Aufforderungen an den VDV, sich bei der Politik für Verbesserungen einzusetzen. Für eine zentrale Infrastruktur-Datenbank sprach sich in diesem Zusammenhang auch Paul Kolmorgen vom Unternehmen Bahnkonzept aus, der über die digitale Streckenerfassung per Video referierte.

Ein ebenfalls stark europäisches geprägtes Thema an der Schnittstelle von Betrieb und Fahrzeugen ist der Allgemeine Vertrag für die Verwendung von Güterwagen (AVV), wie Andreas Mack von SBB Cargo in seinem Vortrag deutlich machte. Dieser multilaterale privatrechtliche Vertrag zwischen Fahrzeughaltern und EVU regelt den Einsatz und die (Wieder-)Inbetriebnahme von Wagen. Alle im Güterverkehr tätigen EVU sollten sich mit dem Vertrag beschäftigen, riet Mack. Es gebe hier einige Unstimmigkeiten und Unklarheiten im Prozess, z.B. bezüglich der Zuständigkeiten der Beteiligten wie EVU, für die Instandhaltung zuständige Stelle (ECM) und Halter, welche heute oft verschiedene Akteure bzw. Unternehmen sind. Nach Kritik von italienischen und Schweizer Behörden am AVV-Procedere hat die SBB eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die Lösungsansätze diskutiert und erarbeitet.

Interoperabilität, Lokführerschein und Haftungsfragen

Den Überblick über Aktuelles aus dem Eisenbahnrecht gab Markus Ring vom VDV. Auch hier spielt die Europäische Union eine Rolle als Takt- und Rahmengeber. Zum einen im Konflikt über die Anwendung der europäischen Interoperabilitäts-Richtlinie auf die deutschen Regionalnetze: Bei dem inzwischen eingestellten Vertragsverletzungs- bzw. dem anschließendem Mahnverfahren hatte der Verband der Bundesregierung inhaltliche Schützenhilfe geleistet.

An den von Brüssel vorgegebenen Rahmen angepasst werden muss auch die Triebfahrzeugführerscheinverordnung, deren laufende Novellierung vor allem auf die Erhöhung der Ausbildungsqualität und Zuverlässigkeit des Personals abzielt. Ziel der VDV-Intervention war es, die Kriterien nicht schärfer als nötig zu fassen, um den Pool der Bewerber*innen auf dem angespannten Arbeitsmarkt nicht zu stark einzuschränken. Nachdem die Verabschiedung der Novelle im Bundesrat nicht wie geplant im Juni zustande kam, ist nun die AG Eisenbahn im Bundesverkehrsministerium damit befasst.

Neben weiteren gesetzlichen Änderungen in Deutschland, wie dem Update der Energiesicherungstransportverordnung (siehe dazu den Beitrag in Deine Bahn 9/2023) oder dem auch für Bahnunternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden geltenden neuen Gesetz zum Schutz von Whistleblowern, ging Ring auf interessante Urteile aus der laufenden Rechtsprechung ein. So können EVU, die auf eigener Infrastruktur fahren, Schadenersatz verlangen, wenn ein verunfallter Pkw den Verkehr blockiert. Ebenso können sich Unternehmen gegen sie verhängte Pönalen von der DB Netz AG zurückholen, wenn die Strafzahlung auf eine schuldhaft verspätete Trassenzuweisung seitens des Infrastrukturbetreibers zurückgeht. Wichtig sind auch zwei Urteile zu Unfällen am Bahnübergang, die EIU und EVU betreffen, welche vom Gesetzgeber nun als Haftungsgemeinschaft betrachtet werden, da beide für diese Gefahrenquelle verantwortlich bzw. verursachend sind.

Als Kooperationspartner und Mitglied der VDV-Akademie ist der Bahn Fachverlag mit seinen Publikationen vor Ort
Als Kooperationspartner und Mitglied der VDV-Akademie ist der Bahn Fachverlag mit seinen Publikationen vor Ort (Foto: Bahn Fachverlag GmbH)

Wasserstoffzüge, Generalsanierung und IT-Sicherheit

Innovationen in Technik und Prozessen widmeten sich zwei weitere Vorträge. Christoph Grimm von den Verkehrsbetrieben Elbe-Weser (evb) berichtete über Erfahrungen aus der weltweit ersten Flotte von Wasserstoffzügen im Regelbetrieb. Die Züge verkehren als Diesel-Ersatz auf dem Streckennetz der RB33, dessen Elektrifizierung nicht wirtschaftlich gewesen wäre. Bei der Entscheidung für Wasserstoff spielte auch die Erwägung eine Rolle, dass die Produktion vor Ort lokale Wirtschaftskreisläufe stärken kann.

Zwei Jahre dauerte die Umstellung bis zu einem stabilen Betrieb, so Grimm. Mit 500 statt 800 Kilometern sei die Reichweite der Züge geringer als vom Hersteller angegeben, diese werde sich aber bis zum Abschluss des Pilotprojektes noch erhöhen – ob in ausreichendem Maße, sei jedoch noch offen. Auf eine Rückfrage zu den Betriebsrisiken hin sagte der evb-Chef, die Wasserstofftanks seien harmlos und sicher, eine mögliche Gefahr gehe eher von der Überhitzung der Traktionsbatterie der Fahrzeuge aus, ähnlich wie bei E-Autos.

Alte Denkmuster aufbrechen und neue Wege gehen, das hat sich die DB Netz AG mit dem Konzept der Generalsanierung vorgenommen, welches Programmleiter Wolfgang Weinhold vorstellte. Der Infrastrukturbetreiber hat zur Beurteilung des Zustands der zu sanierenden Hochleistungskorridore das Prinzip der Schulnoten adaptiert, wie es im Netz der ÖBB und SBB in Österreich und der Schweiz angewandt wird.

Durch eine neue Bewirtschaftungsstrategie sollen ca. 5.000 Streckenkilometer auf gute bis sehr gute Qualität gehoben werden. Eine Totalsperrung in vorgegebener Zeitdauer ermögliche dabei eine ganz andere Baueffizienz, so Weinhold, der die Unterschiede zur bisherigen Vorgehensweise bei der Bauplanung und -ausführung erläuterte. Bei der Erneuerung von Fahrweg und LST auf den Korridoren werden die zudem die Anforderungen für den kommenden Rollout der digitalen Schiene berücksichtigt.

Einen Blick über den Tellerrand bot der Vortrag von Oliver Grosse von der Firma Linde. Er erläuterte das IT-Sicherheitskonzept des Chemieunternehmens, das nach einem gescheiterten Hackerangriff überprüft und weiter optimiert wurde. Grosse ging von dem Beispiel ausgehend darauf ein, wie jedes potenziell gefährdete Unternehmen, unabhängig von der Branche, geeignete Bedrohungsanalysen und Schutzkonzepte durchführen und aufstellen kann, um Risiken systematisch zu reduzieren.

Bahnunternehmen sind seiner Einschätzung nach üblicherweise auf der Sicherheitsanforderungsstufe (Sil) 3 oder teilweise der höchsten Stufe 4 angesiedelt und müssen daher die meisten Vorgaben erfüllen, welche die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) als Sil-Normengeber vorsieht.


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