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Digitale Schiene Deutschland

Digitalisierung der Schiene bis 2040: eine Herkulesaufgabe

ETCS Eurobalise im Gleisbett
Foto: DB AG/Max Lautenschläger

Die Digitalisierung der Schienenstrecken in Deutschland ist ein Kraftakt, der nur mit der vor einem Jahrhundert begonnenen Elektrifizierung des deutschen Eisenbahnnetzes vergleichbar ist. Auf der einen Seite steht ein sehr hoher Kapital-, Technik- und Personaleinsatz, der auf Jahre und Jahrzehnte angelegt ist. Auf der anderen Seite stehen multiple Effizienz- und Kapazitätsgewinne in der Branche, die den Einsatz auf Sicht mehr als ausgleichen können. Doch die einfache Kosten-Nutzen-Rechnung greift zu kurz. Vielmehr ist die Branche zum Erfolg gezwungen, denn Treiber sind nicht nur ökonomische Ziele, sondern anspruchsvolle Wachstumsziele, die von Bund und EU mit Blick auf die klima­politischen Verpflichtungen bis 2030 und 2050 vorgegeben sind.

Die Schiene übernimmt – ergänzt durch den Bus – eine Schlüsselrolle beim Erreichen der Klimaziele. Ohne Wachstum bei Bahn und Bus wird es schlicht nicht gehen: Derzeit liegt ihr Anteil am Modal Split im Schnitt bei lediglich 20 Prozent. Aus Sicht der Branche ist bis 2030 beim öffentlichen Personenverkehr ein Zuwachs um ein Drittel erreichbar. Beim Schienengüterverkehr ist ein Marktanteil von mindestens 25 Prozent erklärtes Ziel der Politik – das entspricht unter Berücksichtigung des prognostizierten Marktwachstums einem Verkehrsleistungszuwachs von knapp 60 Prozent.

Digitale Lösungen erlauben es, bereits auf den bestehenden Schieneninfrastrukturen die Kapazitäten zu erhöhen und damit zusätzliche Mobilität für Menschen und Güter anbieten zu können. Die Eisenbahnen in Deutschland können sogar einen Anteil von über 30 Prozent an der gesamten Güterverkehrsleistung erreichen.

Was helfen Bits und Bytes?

Ihren 113. Geburtstag feiern in diesem Jahr die ältes­ten Stellwerke im deutschen Eisenbahnnetz. Insgesamt 3.500 an der Zahl und etwa 130 verschiedene Bautypen sind heute in Betrieb. Selbst die ersten elektronischen Stellwerke sind inzwischen 25 Jahre alt. Diese Vielfalt bringt hohe Instandhaltungskosten und großen Aufwand bei der Ausbildung des Bedien- und Instandhaltungspersonals mit sich. Eine Modernisierung der Leit- und Sicherungstechnik durch die Digitalisierung und Vereinheitlichung der Stellwerke ist somit sinnvoll und unerlässlich. Hierdurch lässt sich die Leistungsfähigkeit der Schiene steigern und die Wettbewerbsposition der Eisenbahn wird gestärkt. So sehen die gegenwärtigen Pläne vor, bis 2037 das Netz der Deutschen Bahn vollständig mit neuer Leit- und Sicherungstechnik auszurüsten.

Digitale Schiene Deutschland

Mit dem Ziel eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums hat die EU einen rechtsverbindlichen Rahmen zur Einführung und Umsetzung von ERTMS (European Rail Traffic Management System) mit den Kernbausteinen ETCS (European Train Control System) und (GSM-R Global System for Mobile Communications – Rail) als einheitlichem interoperablem Zugsicherungssystem gesetzt. Um nun die ETCS-Einführung und die grundlegende Modernisierung und Digitalisierung der Leit- und Sicherungstechnik bestmöglich zu strukturieren, Eckpunkte zu definieren und Planungen anzuschieben, wurde die Initiative „Digitale Schiene Deutschland“ (DSD) von dem Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur und der DB Netz AG gegründet. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen ist in den DSD-Gremien vertreten, um die Interessen der gesamten Branche zu vertreten. Wichtige Fragen sind vor allem die Einbindung der Infrastrukturen der Nichtbundeseigenen Eisenbahnen (NE-Bahnen) in das Programm sowie die Ausrüstung der Triebfahrzeuge mit ETCS, einschließlich der Finanzierung.

Skaleneffekte in Milliardenhöhe

Das DSD-Programm umfasst die Ausrüstung der Infrastruktur mit digitalen Stellwerken und ETCS Level 2 sowie korrespondierender ETCS-Fahrzeugausrüstung. Die digitale Plattform ETCS/DSTW (Stufe 1) bildet dabei die Basis für die Einführung neuer Technologien des digitalen Bahnbetriebs (Stufe 2) für weitere Kapazitätssteigerung, höhere Qualität und Effizienz. Mit dem flächendeckenden Einsatz der Technik sind hohe Erwartungen für den Infrastrukturbetrieb verbunden: höhere Betriebsqualität, zum Beispiel Erhöhung der Pünktlichkeit (stabilerer Betrieb durch höhere Automatisierung, weniger Störungen etc.), Effizienz (geringere Wartung durch Wegfall von Außenanlagen wie Signale, Achszähler etc.) und mehr Kapazität (dichtere Zugfolge durch Fahren im Bremsweg-Abstand). Es werden kostenseitige Skaleneffekte in Milliardenhöhe erwartet.

Übersicht Zeitplan Digitale Schiene bis 2040
Die ETCS- und DSTW-Ausrüstung beginnt mit einem Starterpaket, anschließend werden schrittweise alle Netzbezirke ausgerüstet (Quelle: McKinsey&Company (2018): Machbarkeitsstudie zum Rollout von ETCS/DSTW)

Mehrere Umsetzungsschritte

Die Umsetzung erfolgt in zwei Schritten: Erstens das „DSD-Starterpaket“ mit definiertem Maßnahmenumfang bis 2030 und zweitens der industrielle Flächenrollout des deutschen Schienennetzes bis 2040 einschließlich Digitalisierung des Bahnbetriebs.

Da jedoch derzeit noch Erfahrungen fehlen, um die Umrüstung auf den Strecken hocheffizient durchzuführen, stellt der Bund für die sogenannten Schnellläufer 500 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm bereit. So soll der Umbau von 13 Projekten im Bereich Digitaler Stellwerke und Bahnübergängen vorangetrieben werden. Der Schwerpunkt liegt dabei abseits der Hauptstrecken, um ohne Auswirkungen auf das Gesamtnetz dort umrüsten zu können. Für das flächenmäßige Ausrollen erstellt die DB ein Modellierungsprogramm, um ein Optimum bei der Umrüstung von Strecke und Fahrzeugen zu erreichen.

Die Informationen zum Modellierungsprogramm, vor allem Fahrzeugdaten, werden im ersten Quartal dieses Jahres für die Branche bereitgestellt. Außerdem sind Gespräche zwischen DB und NE-Bahnen vorgesehen, um technische und betriebliche Schnittstellen und die Zusammenarbeit abzustimmen. Offen ist zum Beispiel, wie die Schnittstelle zwischen den NE-Bahnen und den ETCS-Hauptstrecken gestaltet werden soll. Zum anderen ist ungeklärt, wie mit Rangierfahrten umgegangen werden soll, die in Bahnhöfe mit ETCS einfahren müssen.

Ein Betriebsschema für alle Eisenbahnen

Inzwischen werden rund 5.000 Kilometer, also etwa 15 Prozent des deutschen Schienennetzes, von NE-Bahnen betrieben. Daraus ergibt sich, dass eine umfassende Einführung von ETCS mit den Betreibern nichtbundeseigener Eisenbahninfrastrukturen abgestimmt werden muss. Zudem: Ohne einheitliche Standards bei Technik und Abläufen im europaweiten Maßstab von Beginn an können die erhofften Effizienzen nicht erreicht werden – dies ist eine zwingende Anforderung an Bund und EU.

Der VDV-Grundsatz lautet daher „Ein Betriebsschema für alle Eisenbahnen in der EU – und in Deutschland“. Denn was nutzt ein Schienenfahrzeug, das zum Beispiel von Schweden und Dänemark über Deutschland und Frankreich bis nach Spanien fahren kann, wenn innerhalb Deutschlands die Infrastrukturen der unterschiedlichen Betreiber nicht mit einheitlichen Schnittstellen und Betriebsverfahren ausgerüstet sind? In diesem Zusammenhang ist eine gleichberechtigte Finanzierung der ETCS-Ausrüstung für alle Akteure erforderlich.

Übersicht Zukunftstechnologien digitale Schiene
Quelle: DB AG/Digitale Schiene Deutschland

Anforderungen zur ETCS-Einführung

Für das System Schiene sind Standards wesentlich. Um alle Marktteilnehmer für das höhere, digitalisierte Niveau zu gewinnen, muss es für alle Beteiligten spürbare, ökonomische Vorteile geben, damit diese daran teilnehmen. Ein Anreiz ist, dass die Netzkapazität für alle – nicht etwa für wenige – Marktteilnehmer spürbar erhöht werden muss. Weitere Bedingungen sind eine unkritische Verfügbarkeit der neuen Technik, Planungssicherheit, frühzeitige und transparente Verfügbarkeit von verbindlichen Zeitplänen sowie straffe und transparente Zulassungs- und Genehmigungsabläufe. Die Umstellung auf ein neues System zur Sicherung des bereits heute sicheren Bahnbetriebes darf auch nicht zu wirtschaftlich belastenden Gebühren führen. Selbstverständlich ist die Industrie gefordert, kombinierbare, herstellerübergreifende Standards zu liefern.

Digitalisierung beginnt mit Weichenstellung im Bundeshaushalt

Der VDV als Branchenverband begleitet das Thema seit Jahren auch politisch. Ungelöst ist weiter die Frage der Kosten: In Deutschland müssen deutlich über 10.000 Triebfahrzeuge auf den ETCS-Standard umgerüstet werden. Die Kosten betragen dafür rund vier Milliarden Euro. Darüber hinaus ist gemäß einer Studie mit Mehrkosten in Höhe von rund 28 Milliarden Euro für die ebenfalls nötige Umrüstung der Leit- und Sicherungstechnik zu rechnen, für die Strecken der DB wie auch für jene der nichtbundeseigenen Eisenbahnen.

Der bisherige Ansatz im Bundeshaushalt reicht dafür nicht aus. Da Teile der bisherigen Infrastrukturintelligenz nun in den Fahrzeugen Einzug erhalten, muss die Frage nach der Bundes-Förderung der ETCS-Bordgeräte schnell und zuverlässig beantwortet werden. Die migrationsbedingten zusätzlichen Kosten für die Nachrüstung von Bestandsfahrzeugen und für die Ausrüstung von Neufahrzeugen müssen in einem öffentlichen Finanzierungsprogramm vollständig kompensiert werden. Die Abgeordneten zum neu gewählten Deutschen Bundestag sind gefordert, die politischen Voraussetzungen zu schaffen, will man die Weichen der Bahn künftig auf digitalem Wege stellen.


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