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Zusammenarbeit im Bahnsektor

Digitalisierung der Schiene – Was jetzt notwendig ist

Visualisierung Digitale S-Bahn Hamburg
Quelle: Siemens AG

Die Modernisierung der Leit- und Sicherungstechnik ist ein zentraler Baustein für die Zukunftsfähigkeit der Schiene. Zugleich ist der flächendeckende Rollout digitaler Technologien einschließlich der erforderlichen Fahrzeugausrüstung ein Vorhaben, das erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen bindet. Als Interessenvertretung der Aufgabenträger im Schienenpersonennahverkehr plädiert der Bundesverband SchienenNahverkehr (BSN) deshalb im Folgenden für eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Beteiligten. Dazu gehören der Aufbau einer schlagkräftigen Projektorganisation, belastbare Planungen und verbindliche Zusagen seitens der Politik.

Das politische Ziel, die Schiene zu digitalisieren, hatte sich der Bund erstmalig in der vergangenen Legislaturperiode gesetzt. So hieß es im Koalitionsvertrag von 2017: „Wir wollen die Digitalisierung der Schiene, auch auf hochbelasteten S-Bahnstrecken, vorantreiben und den Ausbau der europäischen Leit- und Sicherungstechnik ETCS, elektronischer Stellwerke und Umrüstung der Lokomotiven durch den Bund unterstützen.“

Diese Entscheidung war überfällig, da bislang immer noch etwa die Hälfte aller Stellwerke mit völlig veralteter, meist mechanischer beziehungsweise elektromechanischer Technologie ausgerüstet ist. Diese ineffiziente Struktur bindet mehr als 50 Prozent aller Fahrdienstpersonale. Das ist wirtschaftlich und demografisch unter Effizienzaspekten nicht mehr darstellbar und zudem nicht zukunftstauglich.

Mit der durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) bei dem Beratungsunternehmen McKinsey & Company beauftragten Machbarkeitsstudie „ETCS/DSTW“ wurde im Dezember 2018 ein erster Vorschlag zur Umsetzung vorgelegt. McKinsey kam darin zu dem Ergebnis, dass die Digitalisierung der Schiene zum einen notwendig ist, da ein wesentlicher Teil der bisherigen Sicherungstechnik ab 2030 abgekündigt ist und zum anderen neben den rein technischen und die Netzkapazität steigernden Vorteilen einer flächendeckenden Umsetzung von ETCS/DSTW auch noch ein erheblicher wirtschaftlicher Vorteil für den Netzbetreiber erzielt werden kann.

Für das Gesamtprojekt waren zum damaligen Zeitpunkt bei einer Umsetzung bis 2040 insgesamt 28 Mrd. Euro für die Streckenausrüstung und 4 Mrd. Euro für die Fahrzeugumrüstung angesetzt worden. Für die DB Netz AG wurde zudem ab 2040, insbesondere durch die Digitalisierung der Stellwerke, ein jährliches Einsparpotenzial in Höhe von 1 Mrd. Euro pro Jahr prognostiziert.

Heute, gut drei Jahre nach der Erstellung des Gutachtens, haben wir einen neuen Koalitionsvertrag, der die Digitalisierung der Schiene in einem einzigen, aber eindeutigen Satz auf den Punkt bringt: „Die Digitalisierung von Fahrzeugen und Strecken werden wir prioritär vorantreiben.“

Im Gutachten von 2018 wurde festgestellt, dass gesamtwirtschaftlich anstelle einer leit- und sicherungstechnischen Doppelausrüstung der Strecken die Doppelausrüstung der Neu- und Bestandsfahrzeuge deutlich vorteilhafter ist. Da dies für die Fahrzeugeigentümer allerdings mit enormen Kosten ohne gleichzeitigen wirtschaftlichen Nutzen verbunden ist, war die Sinnhaftigkeit und Erfordernis einer Fahrzeugförderung unter den Expert*innen unstrittig.

Bislang führte diese Erkenntnis jedoch nicht zu einem konsistenten Handeln seitens der Politik: Der Entwurf des Bundeshaushalts für 2022 war äußerst ernüchternd. In diesem sind noch nicht einmal die bereits über die Förderbescheide erwarteten (maximal möglichen) Mittel für das sogenannte „Starterpaket“ (unter anderem Digitaler Knoten Stuttgart) enthalten. Auch für die Haushalte der kommenden Jahre gibt es noch keine positiven Signale.

Porträt Kai Daubertshäuser
Kai Daubertshäuser (Foto: BSN)

 

 

 

„Nur ein bisschen ETCS bringt nichts – wir brauchen den großen Wurf“

 

 

 

Bei einem Projekt dieser Größenordnung – schließlich wollen wir nichts anderes, als innerhalb kürzester Zeit die Leit- und Sicherungstechnik von gestern und vorgestern zukunftsfähig und damit leistungsstark machen – müssen alle Beteiligten offen und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Bezogen auf den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) sind dies: Bund, Länder, Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), Aufgabenträger, DB Netz AG, Systemhäuser für ETCS-Komponenten und die Fahrzeugindustrie.

Wer muss was zum Gelingen beisteuern?

DB Netz AG

Die DB Netz AG hat zu beschreiben, welche Komponenten für die Digitalisierung des Netzes notwendig sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur mit dem zeitgleichen Einstieg in (teil-)automatisiertes Fahren nachhaltige und dringend benötigte Kapazitätsgewinne auf der Bestandsinfrastruktur möglich sind. Somit ist insbesondere auch – in Abstimmung mit dem Eigentümer Bund – das konkrete betrieblich-technische Zielbild mit dem vorgesehenen Ausstattungslevel verbindlich vorzugeben.

Zudem muss ein Rollout-Plan erstellt werden, der das volkswirtschaftliche Optimum zum Ziel hat und nicht allein die Vorteile für die DB Netz AG. Ganz entscheidend ist hierbei auch, dass von Anfang an „Kostenwahrheit” herrscht, um für die Politik eine echte Entscheidungsgrundlage zu liefern, die auch bis zur Umsetzung Bestand hat.

Systemhäuser und Fahrzeugindustrie

Bei ETCS wird die „Intelligenz“ der Infrastruktur zu einem wesentlichen Teil von der Strecke in die Fahrzeuge verlagert, was eine weitere wichtige Voraussetzung für das Gelingen darstellt. Die Systemhäuser und die Fahrzeugindustrie müssen alles daransetzen, die tatsächliche Anzahl der umzurüstenden Baureihen und damit auch die Zahl der „First of Class“ (FoC)-Fahrzeuge auf das zwingend notwendige Maß zu minimieren und hierfür auch jeweils belastbare Kosten für FoC und die Serienausrüstung anzugeben. Dabei gilt es zu beachten, dass die Ergebnisse auch durch die Abstimmung mit dem Eisenbahn-Bundesamt als Genehmigungs- und Zulassungsbehörde bestätigt werden.

Darüber hinaus muss ein realistischer und belastbarer Zeitplan zur Umrüstung der knapp 7.000 Fahrzeuge des SPNV entwickelt werden. Hierfür sind insbesondere die Kapazitäten der Industrie zu berücksichtigen. Denn diese muss nach der zeitgleichen Entwicklung von FoC-Fahrzeugen unterschiedlicher Baureihen sowohl für Schienenpersonennahverkehr, Schienengüterverkehr als auch Fernverkehr die spätere Serien­ausrüstung stemmen.

Zudem ist eine genaue Planung notwendig, in welchen Werkstätten diese große Zahl der Umrüstungen erfolgen soll. Ebenfalls ausstehend ist die fahrzeugscharfe Konkretisierung der benötigten Ersatzflotte unter Berücksichtigung der befahrenen Infrastruktur, der Fahrplanvorgaben und Kapazitätsanforderungen – und insbesondere muss geklärt werden, wie viele solcher Kompensationsfahrzeuge überhaupt zu den benötigten Terminen auf dem Markt vorhanden sind und wie diese finanziert werden sollen.

Dreh- und Angelpunkt für die Umrüstung ist die Frage, bis zu welchem Fahrzeugalter eine Umrüstung mit den On-Board-Units (OBU) für ETCS wirtschaftlich ist. Dies ist wiederum stark abhängig von den aufgerufenen Kosten für eine Umrüstung im Vergleich zu den Opportunitätskosten einer vorgezogenen Fahrzeug­beschaffung – unter Berücksichtigung der Kapazität der Fahrzeugindustrie zur Fertigung zusätzlicher Neufahrzeuge. Auch dies ist ein komplexes Unterfangen.

Aufgabenträger

Die zentrale Herausforderung der Aufgabenträger ist es, die notwendigen Eingangsdaten für die Fahrzeug­umrüstung zu liefern. Dazu zählen unter anderem wichtige Eckpunkte zu den Verkehrsverträgen (Laufzeit, bediente Strecken) und den Fahrzeugen selbst (konkrete Baureihen, Anzahl, Alter). Darüber hinaus ist zu ermitteln, ob und wie viele Fahrzeuge für die Umrüstung aus dem laufenden Betrieb herausgezogen werden können, ohne dass sich die Qualität der Leistungserbringung nachhaltig verschlechtert.

Aus diesen Informationen ist anschließend eine Anzahl von zusätzlich notwendigen Ersatzfahrzeugen zu berechnen und zu prüfen, ob und wenn ja, wann diese durch wen und zu welchen Kosten bereitgestellt werden können.

Bund und Länder

Wenn all diese Informationen vorliegen, müssen Bund und Länder sich über die Finanzierung verständigen. Dabei ist es aus Sicht der Aufgabenträger unabdingbar, dass bei ETCS der Infrastrukturbegriff auch die Fahrzeugausstattung mit OBU als „rollende Infrastruktur“ umfasst. Auf der anderen Seite ist zu ermitteln, welche Kostenbestandteile für ETCS beispielsweise aus der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) gegengerechnet werden können.

S-Bahn Zug bei der Einfahrt
Digitales Stellwerk Warnemünde: Einfahrt eines Zuges der S-Bahn Rostock (Foto: DB AG/Volker Emersleben)

Wo stehen wir heute?

Derzeit liegt das Projekt in den Händen der DB Netz AG. Bislang wurden auch ausschließlich dort die für eine Rollout-Planung notwendigen Personalressourcen aufgebaut. Von der anfänglichen Befürchtung, dass die DB Netz AG die Planung und Umsetzung von ETCS als rein DB-eigenes Projekt ohne die Einbindung weiterer Beteiligter angeht, sind wir jedoch zum Glück inzwischen weit entfernt.

Die Fahrzeugindustrie und die Systemhäuser hingegen haben noch keine nennenswerten Personal­kapazitäten aufgebaut – was jedoch angesichts der fehlenden konkreten Aufträge auch nicht verwunderlich ist. Auf Seiten der Aufgabenträger wiederum wird der für die Umsetzung so wichtige Bereich der Aus- und Umrüstung der Fahrzeuge in Verbindung mit einer Ersatzflotte nur durch einige wenige Fachleute „nebenbei“ bedient. So allerdings kann ein Projekt dieser Größenordnung nicht wirklich gelingen.

Und der Bund? Er hat über das sogenannte „Starterpaket“ und seinen Verpflichtungen gegenüber der EU hinaus noch keine belastbaren Finanzierungszusagen für das Gesamtprojekt gemacht. Vor allem aber negiert er bislang beharrlich seine Zuständigkeit für die Förderung der Fahrzeugaus- und -umrüstung mit OBU.

In letzter Zeit ziehen sich Vertreter des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) sogar darauf zurück, dass ETCS schlicht als Voraussetzung für den Zugang zum Netz in den Netznutzungsbedingungen deklariert wird und somit die Aufgabenträger beziehungsweise EVU sicherstellen müssten, dass bis zu diesem Zeitpunkt alle Fahrzeuge über die entsprechende Ausrüstung verfügen. Zudem verfüge man ja durch Erhöhungen der Regionalisierungsmittel – die im Übrigen zwar im Koalitionsvertrag verankert, bislang jedoch noch nicht erfolgt sind – über hinreichende Mittel. Mit diesem Taktieren kommen wir nicht weiter!

Zug der S-Bahn Hamburg im Design der digitalen Schiene
Digitale S-Bahn Hamburg: Vorstellung des ersten hochautomatisiert fahrenden Zuges durch Deutsche Bahn und Siemens im Oktober 2021 (Foto: DB AG/Miguel Ferraz Araujo)

Was muss geschehen?

Zunächst muss DB Netz AG die vollständigen Kosten des Systemwechsels transparent machen – und dabei auch den Einstieg in das (teil-)automatisierte Fahren berücksichtigen. Die Fahrzeugindustrie muss zusammen mit den Systemhäusern und in Abstimmung mit den Genehmigungsbehörden die tatsächliche Anzahl der FoC-Baureihen vorlegen und hierfür belastbare Kosten je Baureihe benennen.

Anschließend ist der Bund gefordert: Er muss über die Umrüstung des gesamten Streckennetzes auf ETCS mit digitalen Stellwerken und damit einher­gehend die Aus- und Umrüstung der Fahrzeuge mit OBU entscheiden und zudem die Finanzierung langfristig sichern. Darüber hinaus muss er sich mit den Ländern auf eine konkrete Lastenverteilung bei der Aus- und Umrüstung der Fahrzeuge und der für die Umbauzeit notwendigen Ersatzflotte verständigen.

Als wäre all dies nicht schon komplex genug, ist zudem zu beachten, dass bundeseigene und nicht-bundeseigene Schieneninfrastruktur nicht unabhängig voneinander existieren. Diese werden vielmehr teilweise von denselben Fahrzeugen befahren. Daher ist auch eine Integration der Ausstattungsplanung für derartige Infrastrukturen erforderlich.

Parallel zur Kostenermittlung benötigen wir einen realistischen Zeitplan für den Rollout, der den Interessen von DB Netz, den Fahrzeugeigentümern und EVU sowie den Aufgabenträgern Rechnung trägt. Zudem müssen die Zeiträume, die für die Fahrzeugumrüstung notwendig sind, realistisch abgebildet werden, um die Zahl der Ersatzfahrzeuge überschaubar zu halten.

Dazu ist es notwendig, eine gemeinsame Projektstruktur auf Augenhöhe aufzusetzen, bei der auch die Aufgabenträgerseite ausschließlich für dieses Projekt zuständige Personale in ausreichender Anzahl und über die gesamte Projektlaufzeit einbringt. Dabei ist sicherzustellen, dass alle Projektbeteiligten den vollständigen Informationszugang zu allen, das Gesamtprojekt betreffenden Parametern erhalten. Nur so kann eine gesamtwirtschaftlich optimale Lösung für alle verwirklicht werden.

Und schließlich ist die Fahrzeugindustrie zusammen mit den Systemhäusern gefordert, die Anzahl der als FoC zu bezeichnenden Baureihen auf das absolute Minimum zu reduzieren und alle Möglichkeiten zur Kostensenkung zu nutzen. Parallel hierzu sind die Möglichkeiten zur zeitgleichen Entwicklung von FoC sowie zur Serienausstattung der Fahrzeuge darzulegen. Um die spätere Umrüstung besser zu steuern, ist es ebenfalls notwendig, eine Einheit für die Projektkoordination „Fahrzeugumrüstung“ in das Rollout-Team zu integrieren.

Fazit

Die Digitalisierung des Schienennetzes ist und bleibt ein zentraler Baustein, um die Schiene zukunftsfähig zu machen. Ein solch komplexes Vorhaben benötigt jedoch ein klares Bekenntnis seitens des Infrastruktur­eigentümers zur Umsetzung mit entsprechender gesicherter Finanzierung – inklusive der Fahrzeugaus- und -umrüstung. Und es ist eine Projektorganisation aufzusetzen, die alle betroffenen Seiten mit ausreichender Personalstärke in Vollzeit einbezieht. Es muss dabei allen klar sein: um die Digitalisierung zum Erfolg werden zu lassen, bringt „ein bisschen ETCS“ nichts. Wir benötigen den großen Wurf: flächendeckend inklusive (teil-) automatisiertem Fahren – und das alles auch noch zeitnah.


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